Lass uns von hier verschwinden

von Julian Mars

Klappenbroschur, 256 Seiten

Veröffentlchung: Oktober 2018

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Lass uns von hier verschwinden

Erwachsensein – auch eines dieser Dinge, die sich Felix einfacher vorgestellt hatte. Nicht, dass er sich keine Mühe geben würde, im Gegenteil: Es gibt in seinem Leben schon lange nichts mehr, das nicht das Prädikat ‚vernünftig‘ verdient hätte. Sogar mit seinem Ex-Freund Martin trifft er sich wieder ab und zu und tut dabei tapfer so, als wäre er längst über alles hinweg.

Alles furchtbar erwachsen eben, und alles furchtbar langweilig – wäre da nicht sein neuer Mitbewohner, der nicht nur Felix’ festgefahrene Routine, sondern auch seine Gefühle heftig durcheinanderbringt. Und dann ist da noch Emilie, Felix’ beste Freundin, die mit einer einzigen Frage seine ganze Welt aus den Angeln hebt.

Nach seinem viel beachteten Debütroman „Jetzt sind wir jung“ erzählt Julian Mars auch im zweiten Teil der Felix-Trilogie mitreißend und einfühlsam von den großen Fragen und dem kleinen Glück, von falschen Hoffnungen, echter Freundschaft – und den Schwierigkeiten, endlich einen Platz im Leben zu finden.

BIOGRAFIE

JULIAN MARS wuchs in der Nähe von Stuttgart auf und studierte in Köln Medien- und Politikwissenschaften. 2015 erschien sein Debütroman Jetzt sind wir jung. Heute lebt Julian Mars als freier Autor in Berlin.

LESEPROBE
Auszug aus „Lass uns von hier verschwinden“ von Julian Mars

Ich denke oft, dass das Leben doch viel schöner wäre, wenn es mehr Ähnlichkeit damit hätte, auf der Couch zu liegen und Netflix zu schauen. Auf jeden Fall käme man dann besser damit klar, und das liegt nicht nur daran, dass man in beschissenen Situationen einfach vorspulen könnte. Und die besonders schönen immer wieder erleben. Man könnte sich das Genre aussuchen, jeden Tag aufs Neue. Und man könnte sich vor allem darauf verlassen, dass einem der ganze Scheiß, mit dem man sich rumschlagen muss, in Portionen serviert wird, die man gerade noch irgendwie verdaut bekommt. Weil spätestens nach vierzig Minuten erst mal Schluss ist und man sich dann entscheiden kann, ob man noch fit genug ist für die nächste Runde. Oder ob man erst mal von allem eine Pause braucht.

Wenn ich aber eine Sache gelernt habe bisher, dann diese: Das echte Leben läuft eben nicht auf Netflix, und es besteht erst recht nicht aus einer Staffel im Jahr mit einem Cliffhanger pro Folge.
Im echten Leben passiert oft lange gar nichts.
Und dann alles auf einmal.

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„Seit wir uns in den Ferien nach der vierten Klasse mit einem Perlenohrring meiner Mutter in die Zeigefinger gestochen und sie dann ganz fest aneinandergedrückt haben, ist Emilie mehr als meine beste Freundin. Sie ist meine Schwester. „Jetzt sind wir blutsverwandt, Felix“, hat sie damals gesagt. Und mir danach feierlich erklärt, was das bedeutet. Dass wir immer verbunden sein werden nämlich, auch wenn wir uns mal streiten. Und gestritten haben wir uns wirklich genug in den letzten siebzehn Jahren. Es gab sogar Phasen, in denen wir uns nicht mal besonders gut leiden konnten. Aber wir haben beide nie daran gezweifelt, dass zwischen uns diese ganz besondere Verbindung besteht. Für immer.

Ist natürlich kindisch, das nur auf die eine Sache mit dem Perlenohrring zu schieben. Und trotzdem ist es immer wieder diese Szene, die mir in den Sinn kommt, wenn ich über mein Verhältnis zu Emilie nachdenke. Dann sehe ich wieder dieses Mädchen mit dem Porzellangesicht, der Zahnlücke und dem blutenden Finger vor mir, das schon damals so schön war wie die Frau, die inzwischen aus ihm geworden ist. Obwohl es sich seltsam anfühlt, Emilie eine Frau zu nennen. Denn das würde ja bedeuten, dass aus mir ein Mann geworden sein muss. Ist ein komisches Wort, oder? Weil es so unumkehrbar erwachsen klingt, so nach «Er weiß immer, was zu tun ist». Dabei habe ich immer noch in erschreckend vielen Situationen nicht die geringste Ahnung, was zu tun ist.

Ich habe schon immer dazu geneigt, im Zweifelsfall den Kopf einzuziehen und einfach gar nichts zu machen, außer zu hoffen, dass sich alles irgendwie von selber regelt. Früher hat das sogar meistens funktioniert. Aber vielleicht ist das tatsächlich eines der ersten Anzeichen dafür, dass man erwachsen geworden ist: Wenn es immer mehr Situationen gibt, in denen man sich nicht mehr einfach wegducken kann, sondern sich entscheiden muss. Weil es niemanden mehr gibt, der einem das im Zweifelsfall abnimmt. So wie heute Nachmittag.

„Also los“, sage ich, als Emilies Zug in den Bahnhof einfährt. „Umdrehen, damit ich dich noch mal umarmen kann.“ Sie dreht mir folgsam den Rücken zu, und ich greife um sie herum und lege meine Hände auf ihren kugelrunden Bauch. „Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bist du vielleicht schon eine Mama“, flüstere ich ihr ins Ohr. Um sie zu ärgern.
„Mein Opa hat immer zum Abschied gesagt: ‚Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bin ich vielleicht schon tot’“, antwortet sie und macht sich von mir los, weil es Zeit zum Einsteigen ist. „Kann man jetzt drüber streiten, welche Aussicht die deprimierendere ist.“

„Tja“, sage ich, während sie sich die zwei Stufen in den ICE hochkämpft. „Das Gute ist, dass wir das ja bald erfahren werden.“ Ich reiche ihr die Reisetasche und versuche, ein zuversichtliches Gesicht dabei zu machen. „Kopf hoch, Em. Das haben schon ganz andere vor dir geschafft“, schiebe ich noch schnell hinterher, obwohl ich schon in derselben Sekunde denke, dass sich von blöden Floskeln auch kein Mensch was kaufen kann. „Gute Fahrt. Und grüß Hamburg von mir.“

Ihre Antwort ist dieser typische Emilie-Blick, den ich schon seit zwanzig Jahren kenne und den ich auch in den letzten Tagen oft bei ihr gesehen habe: Eine Mischung aus Konzentration, Angst und einem unterdrückten Gähnen, die nur bedeuten kann, dass sie mit sich kämpft, weil sie mir irgendwas sagen will, aber es mal wieder nicht über die Lippen bringt. Doch jetzt ist es zu spät.

Vom Bahnsteig aus schaue ich dabei zu, wie sie sich auf ihren reservierten Fensterplatz setzt, und ich warte darauf, dass sie noch einmal zu mir rausschaut, damit ich ihr zum Abschied winken kann. Aber das tut sie nicht, obwohl sie genau weiß, dass ich noch da stehe. Stattdessen greift sie nach ihrem Handy und starrt angestrengt auf den Bildschirm.

Emilie war schon immer ein merkwürdiger Mensch. Ich kenne niemanden, der so gerne und vor allem so ausdauernd Geschichten erzählt wie sie, egal ob über ihren Arbeitstag, diese unverschämte Alte im Supermarkt oder über dieses wahnsinnig scharfe Kleid, das sie sich geleistet hat. Nur wenn es um die wichtigen Dinge geht, die echten Sorgen im Leben, habe ich mich schon lange daran gewöhnt, dass sie mich an dem, was in ihr vorgeht, nur in wohlüberlegten Dosen teilhaben lässt. Und das in der Regel auch erst dann, wenn sie alles schon längst mit sich selbst ausgemacht und abgehakt hat, sodass mich die meisten echten Neuigkeiten aus ihrem Leben erst mit ein paar Lichtjahren Verspätung erreichen. Wie bei einem Stern, der in weiter Ferne vor sich hin funkelt.

Von ihrer Schwangerschaft hat sie mir erst erzählt, als sie sicher war, dass sie das Kind behalten würde. Und wer weiß, wenn sie sich anders entschieden hätte, hätte ich möglicherweise nie davon erfahren. Man muss vielleicht dazusagen, dass Emilie keine besonders gute Schauspielerin ist. Normalerweise merke ich ziemlich schnell, wenn sie irgendwas beschäftigt. Aber wenn ich dann nachfrage, kriege ich immer die gleiche Antwort: „Ach, Honey, das renkt sich schon wieder ein“, sagt sie nur und wuschelt mir lächelnd durch die Haare, bevor sie das Thema wechselt.

Und das beruhigt mich jedes Mal zumindest ein bisschen, weil ich dann weiß, dass ihr Problem so schlimm nicht sein kann. Emilie ist der einzige Mensch, der mich Honey nennen darf. Damit hat sie angefangen, nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich schwul bin, an ihrem siebzehnten Geburtstag. Und von diesem Privileg macht sie ausufernden Gebrauch. Felix nennt sie mich nur, wenn es ernst wird, für mindestens einen von uns beiden. Und solange sie noch nicht so verzweifelt ist, denke ich mir immer, ist wahrscheinlich alles noch mehr oder weniger in Ordnung.

Mein Handy klingelt, als ich mich gerade auf die Rolltreppe stelle, die vom Gleis in die Bahnhofshalle führt. Ich ziehe es aus der Hosentasche und sehe, dass Emilie anruft. Also drehe ich mich schnell wieder um und mache einen großen Schritt zurück auf den Bahnsteig. Ich schaue zu ihrem Zug, der sich gerade langsam in Bewegung setzt.

„Alles okay?“, frage ich, nachdem ich den Anruf angenommen habe. Zwei Sekunden lang kann ich sie noch sehen, bevor sie aus meinem Blickfeld rollt. Doch sie schaut mich immer noch nicht an.
„Felix, eigentlich wollte ich dich die ganze Zeit was fragen“, sagt sie dann, und ihre Stimme klingt dabei so brüchig, dass mir auf einmal ganz flau wird im Magen. «Aber ich hab mich nicht getraut.“
„Ist mir gar nicht aufgefallen.“ Ich lehne mich vorsichtshalber an die nächste Betonsäule. „Und traust du dich jetzt?“
Ein paar Sekunden lang ist es still in der Leitung, dann höre ich sie Luft holen. „Ich bin dir nicht böse, wenn du nicht möchtest, okay?“, sagt sie schließlich. „Und du darfst mir auch nicht böse sein, dass ich dich überhaupt frage. Aber möchtest du der Vater meines Kindes werden?“

Auszug aus „Lass uns von hier verschwinden“ von Julian Mars