Hoffnungslose Geschlechter

von Herman Bang

Aus dem Dänischen übersetzt von Gabriele Haefs

Harcover mit Schutzumschlag, 384 Seiten
Veröffentlchung: September 2013

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Hoffnungslose Geschlechter

Herman Bang (1857-1912) schrieb seinen Debutroman im Alter von 23 Jahren, und sowohl sein Held William Hög als auch dessen dekadenter Freund Bernhard Hoff tragen autobiografische Züge. William, ein „sehr dunkler Junge, fast wie ein Zigeuner“, ist der letzte Spross einer alten, berühmten Familie, doch schon sein Vater hatte durch sinnliche Ausschweifungen seine Gesundheit ruiniert und war früh in Wahnsinn und Drogensucht gestorben. Als William erkennt, dass ihm ein bürgerliches Leben nicht gelingt, ermutigt ihn Hoff, das künstlerische Schattenreich als Rückzugsort zu wählen.

Damit ist William der literarische Ahnherr von Thomas Manns Hanno Buddenbrook und auch von Heinrich Manns Professor Unrat. Bangs Zeitgenossen empfanden bereits die realistische Darstellung gesellschaftlichen Verfalls als Provokation, aber mehr noch die mitschwingende Behauptung von Unausweichlichkeit. Denn wie sagt der Dorfarzt: „Diese Linie ist fertig.“ Dass William Hög eine Liebesaffäre mit der ehemaligen Geliebten seines Vaters beginnt, lieferte den Vorwand für ein Verbot des Romans.

Wie fünfzehn Jahre später im Prozess gegen Oscar Wilde war es auch hier wohl nur das Wissen um die Homosexualität des Autors, das den harmlosen Schilderungen ihre unmoralischen Interpretationen hinzufügte. In Deutschland erschien 1900 die Übersetzung der gekürzten und überarbeiteten 2. Auflage des Romans, nachdem Bang hierzulande durch den Roman „Am Wege“ schlagartig bekannt und beliebt geworden war.

Mit dieser Neuübersetzung der ungekürzten Erstfassung legen wir Bangs Debut nun erstmals vollständig in deutscher Sprache vor. Bangs letzter, in deutscher Sprache seit langem vergriffener Roman „Michael“ erschien 2012 in der Bibliothek rosa Winkel.

LESEPROBE
Auszug aus „Hoffnungslose Geschlechter“ von Herman Bang

PROLOG

Es war ein altes Geschlecht, sehr alt, altersgrau geworden im Land. Aus dem Stammbaum ging hervor, dass es einst Zweige auf Fünen und in Seeland gegeben hatte, doch das war nun lange her, und in den letzten beiden Jahrhunderten war es mit der Größe abwärtsgegangen. Dass sie von Adel waren, war in Vergessenheit geraten, und der Ruhm war mit dem Adelstitel ins Grab gesunken. Die Familie lebte unauffällig, einige trieben Handel, andere ein Handwerk, es gab zwar auch ab und zu studierte Menschen bei ihnen, denn es war ein weit verbreitetes Geschlecht, aber nichts ragte heraus, alles war recht mittelmäßig und unscheinbar. Die meisten hatten ihre berühmte Herkunft wohl sogar vergessen.

Aber gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts kam ein einzelner Zweig des Geschlechts wieder zu Kräften. Manche Familien ließen ihren Adelstitel per reskript erneuern; andere begnügten sich damit, sich durch Taten zu verjüngen. Diese zeichneten sich in der Juristerei aus: Ihre Mitglieder schwangen sich zu den höchsten Ämtern auf, wohlklingende Titel und Orden aus aller Herren Länder wurden abermals Attribute ihres Namens. Sie waren strenge, willensstarke Männer, die arbeiten konnten und die wussten, was sie wollten. Sie verdankten ihr Glück ihrem eisernen Fleiß und ihrem starken Verstand.

Aber mit dieser Tüchtigkeit, auf gleichem Fuße mit dem angestrengten Fleiß, ging in der gesamten Verwandtschaft eine gewisse Exzentrizität Hand in Hand, ein Hang zur Übertreibung in allem, und das zeigte sich auf unterschiedliche Weise. Der Erneuerer des Geschlechts war ein eifriger Pietist, er verfasste fromme Bücher und züchtigte seinen Leib auf vielerlei Weise. Seine Frau war leichtsinnig und launenhaft, sie beschenkte andere und bestahl ihren Mann, um diese Leidenschaft zu befriedigen. Während der täglichen Hausandacht lachte sie mit ihren Kindern, als wäre sie selbst ein Kind, und bewarf die Dienstboten mit Papierkügelchen. Zudem schrieb sie Verse, in denen es zumeist um Hirten und anmutige Hirtinnen mit lockeren Sitten ging. Ihr Handeln wurde stets von ihren Leidenschaften geleitet.

Das waren die Stammeltern. Ihre Tochter bereitete ihnen offenbar mancherlei Kummer. Was sich wirklich zugetragen hatte, ist schwer zu sagen. Fest steht, dass die junge Dame das war, was man im Allgemeinen „von lockeren Sitten“ nennt. Sie wurde von einem adligen Offizier verführt und von ihrem Vater verstoßen, aber ihre Mutter unterstützte sie offenbar – die beiden heirateten dann später –, bis sie in der Dunkelheit verschwanden.

Der Sohn trat in die Fußstapfen des Vaters und brachte es ebenso weit. Er besaß den eisernen Fleiß seines Vaters, dessen raschen Blick und dessen Begabung. Er arbeitete zudem mit größerer Perspektive in einer jüngeren Zeit. Redlich trat er in die Reihe der starken Männer, die das vergangene Jahrhundert vom Anfang bis zur Mitte hin so sehr prägten. Von seiner Mutter hatte er eine große Unruhe geerbt, er musste immer beschäftigt sein, er vergrub sich in Arbeit. In seinen Mußestunden schrieb er Verse; sie waren nicht gut, und obwohl ein Minister unter Kristian VIII. viel zu tun hatte, verfasste er so viele davon, dass er sie in Wäschekörben verstecken musste. Er hatte aber noch mehr von seiner Mutter geerbt: Er war ebenso freigebig wie sie und ebenso heftig. Außerdem war er ein eitler Mann, der das öffentliche Aufsehen genoss.

Das Familienwappen wurde auf alle Kutschenpolster gestickt, er ließ Ordnung in seinen Stammbaum bringen und knüpfte Kontakte zum neuen Adel, um seine Familie zu erheben. Seine Frau unterstützte ihn bei diesen Bestrebungen. Er hatte sie spät, als angesehener Mann, geheiratet, und die Leute fragten sich, ob die schöne Frau den Mann oder den Namen und dessen Zukunft begehrenswert fand. Dennoch war die Ehe glücklich; er überschüttete sie mit einem damals fast unbekannten Luxus und ließ sie in Schmuckstücken, Seidenkleidern und Gedichten schwelgen. Das war seine Freude. Die Gattin nahm alles mit großer Gelassenheit entgegen und versuchte nur, die Unruhe Seiner Exzellenz zu dämpfen.

Sie lebte in der Hoffnung auf eine strahlende Zukunft für ihre Kinder, fürchtete jedoch, die Exzentrizität ihres Mannes könne alles ruinieren. Sie weinte einen ganzen Tag, als der Minister einmal in Gedanken verloren mitten in einem Bericht für den Staatsrat plötzlich ein Gedicht geschrieben hatte. Aber als Seine Majestät diese Episode so witzig fand, dass er den Verseschmied mit dem Großkreuz belohnte, war die Gattin besänftigt.

Das Familienwappen wurde auf alle Kutschenpolster gestickt, er ließ Ordnung in seinen Stammbaum bringen und knüpfte Kontakte zum neuen Adel, um seine Familie zu erheben. Seine Frau unterstützte ihn bei diesen Bestrebungen. Er hatte sie spät, als angesehener Mann, geheiratet, und die Leute fragten sich, ob die schöne Frau den Mann oder den Namen und dessen Zukunft begehrenswert fand. Dennoch war die Ehe glücklich; er überschüttete sie mit einem damals fast unbekannten Luxus und ließ sie in Schmuckstücken, Seidenkleidern und Gedichten schwelgen. Das war seine Freude. Die Gattin nahm alles mit großer Gelassenheit entgegen und versuchte nur, die Unruhe Seiner Exzellenz zu dämpfen. Sie lebte in der Hoffnung auf eine strahlende Zukunft für ihre Kinder, fürchtete jedoch, die Exzentrizität ihres Mannes könne alles ruinieren. Sie weinte einen ganzen Tag, als der Minister einmal in Gedanken verloren mitten in einem Bericht für den Staatsrat plötzlich ein Gedicht geschrieben hatte. Aber als Seine Majestät diese Episode so witzig fand, dass er den Verseschmied mit dem Großkreuz belohnte, war die Gattin besänftigt.

Von ihren Kindern war Ludvig, der älteste Sohn, der Liebling des Vaters. Er verfügte ebenfalls über hervorragende Begabungen und viel von der Eleganz, die ererbte Vornehmheit schenkt. Man sah sofort, dass dieser junge Mann von sechzehn Jahren es auch mit einem geringen Fundus an Tüchtigkeit und Tatkraft weit bringen würde. Andere hatten bereits die Fundamente gelegt, auf denen er aufbauen konnte. Aber es zeigte sich alsbald, dass Ludvig das Schicksal vieler Söhne großer Männer teilte – er war überaus schwächlich, nervös, schon früh sehr melancholisch. Mit ihm hatte die Familiengeschichte ein neues Stadium erreicht.

Die Kraft war verschwunden. Die Gehirne waren nicht mehr so stark. Die Exzentrik hatte überhandgenommen. Ludvig wusste nichts von der gesunden Mitte, er übertrieb alles; zugleich war er noch unruhiger und gehetzter als sein Vater, und er hatte keine bedeutende Arbeit als Bollwerk gegen seine Laster.

Der Vater wollte das alles nicht sehen: Die Begabungen des Sohnes – er schrieb Verse, die um einiges schöner waren als die der Exzellenz, er war sprachbegabt, er sang außerordentlich schön, und niemand konnte seine Vollblutpferde eleganter lenken als er – blendeten ihn; und er ließ ihn lange nach Belieben schalten und walten. Seine große Eitelkeit verleitete ihn zudem dazu, Ludvig noch mehr als üblich mit Geschenken zu überschütten, seine Mittel erlaubten es ihm, ihn in Gesellschaft blendend auftreten zu lassen.

Der Sohn reiste viel, nahm zu Hause an allem teil, was vornehme Muße an Zerstreuung zu bieten hatte, machte Schulden, die von der Exzellenz ohne Murren beglichen wurden, dilettierte in vielen Bereichen und war frühzeitig in vielerlei Hinsicht am Ende. Er wurde immer nervöser und immer leidender – seine Melancholie war beunruhigend, und die Munterkeit, die sie bisweilen ablöste, war ängstlich und überspannt. Man fragte sich bereits, was aus Ludvig Høg einmal werden sollte, und bedauerte seinen Vater.

Eines Tages rief Seine Exzellenz den Sohn in sein Arbeitszimmer, und dort wurde sehr laut und lange geredet. Die Gattin hörte, wie die Stimme ihres Mannes heiser aufschrie, darauf folgte ein heftiges, lange anhaltendes Heulen.

Es war im Herbst, als das geschah. Den ganzen Winter hindurch studierte Ludvig daraufhin wie ein Besessener, er schlief nur drei Stunden pro Tag und hielt sich wach, indem er Sherry trank und die Füße in Eiswasser stellte. In ihm steckte durchaus etwas vom Arbeitseifer seines Geschlechts, nur fehlte ihm dessen physische Stärke. Der plötzliche übertriebene Fleiß richtete ihn vollends zugrunde, seine Gesundheit wurde unwiderruflich untergraben und seine Fähigkeiten beträchtlich geschwächt.

Dennoch bestand er im Sommer seine juristischen Examen mit den besten Noten, und Exzellenz waren zufrieden. Jetzt sollte der Sohn sich erst einmal erholen, nach seiner Rückkehr könnte dann etwas für ihn getan werden. Ludvig fuhr nach Paris.

Außer Ludvig gab es noch zwei Söhne, der eine war recht begabt, der andere wurde Bauer. Begabung, Kraft und eiserner Fleiß wurden im Geschlecht der Høgs schwächer und schwächer, und die Exzentrik wuchs, die Launen, die mit der Verse schreibenden Stammmutter in die Familie gekommen waren, die Übertreibung, aus der heraus der Stammvater einer der eifrigsten Pietisten seiner Zeit geworden war. Weder Ludvig noch seine Brüder brachten es sonderlich weit. Sie alle hatten zu schnell gelebt und waren ohne Energie, sie lebten als Söhne reicher Eltern und verlegten sich in ihrer Jugend auf einen substanzlosen Dilettantismus, wie es in geschwächten Familien oft der Fall ist. Die Familie Høg hatte sich verausgabt, und ihre Kinder waren von der Verausgabung gezeichnet.

(…)