Spunk

von Michael Roes

Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 268 Seiten
Veröffentlichung: 25. September 2023

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Spunk

1978/79: Nach einer Ausbildung zum Dachdecker entflieht Gabriel der gewalttätigen Enge seines rheinischen Elternhauses, indem er – gemäß alter Handwerkertradition – auf Wanderschaft geht. Bewehrt mit Stenz und Charlie, entdeckt er das Land seiner Herkunft in all seiner Schönheit und Zerrissenheit. Sein Begleiter: ein Wanderbuch, dem er nicht nur seine Stationen und Bekanntschaften, sondern auch seine tiefsten Gedanken anvertraut. Sie drehen sich um Freiheit, Sexualität, Gesellschaft, Familie und die Macht der Worte. Als Gabriel in West-Berlin strandet und in einer Kreuzberger Hausbesetzer-WG den Punk Pille kennenlernt, erfährt er zum ersten Mal im Leben das Gefühl inniger Freundschaft. Oder ist es Liebe? Für einige Wochen scheint es, als wäre er angekommen. Doch die Walz ist noch nicht vorbei – und die Suche nach der eigenen Sprache gerade erst am Anfang …

BIOGRAFIE

MICHAEL ROES, geboren 1960 in Rhede / Westfalen, ist Autor und Filmemacher. Er verfasste zahlreiche Romane, Theaterstücke und Gedichte, schuf mehrere filmische Essays und dokumentarische Spielfilme. Sein Roman „Die Laute“ war 2012 für den Deutschen Buchpreis nominiert, 2020 erhielt er den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis für sein literarisches Gesamtwerk. Bei Albino erschien zuletzt sein Rimbaud-Roman „Der Traum vom Fremden“. Michael Roes lebt in Berlin.

LESEPROBE
AUSZUG AUS „SPUNK“ VON MICHAEL ROES

Am nächsten Morgen bin ich gleich der erste in der Handwerkskammer. Werde von Büro zu Büro geschickt, müde, graue Gesichter, vielleicht ist auch nur das graue Berliner Novemberlicht schuld, aber nein, sie seien ja keine Jobvermittlung, im übrigen gäb es ja nicht mal für die Eingeborenen genug zu tun, warum ich überhaupt rübergemacht hätte, andere Leute in meinem Alter, die wirklich anpacken wollten, hauten doch ab aus Berlin, wer hier bleibt, habe keinen Bock auf Maloche, und von einem Zehrgeld haben die Sesselpupser hier auch noch nichts gehört. Schicken mich einfach zurück in die Prärie, ich solle mir am Bahnhof Zoo am besten eine Fahrkarte nach Helmstedt kaufen. Aber ich pfeif auf ihr Ge-sülze, kauf mir am Bahnhof Zoo von meinen letzten Penunzen erst mal zünftig eine Boulette und ein Schultheiß (beides, das ist gleich beim ersten Zungenkontakt klar, nicht mit einer Frikadelle und einem Kölsch zu verwechseln), und probier, die Birne von all dem abweisenden Gelaber wieder frei zu bekommen.

Was mir beim Streunen durch die Straßen gleich auffällt, sind die vielen Bombenlöcher und Trümmergrundstücke, die es hier noch gibt. Und an den Fassaden mancher Vorkriegsbauten erkennt man noch die Narben der Einschüsse und Granatsplitter. Man könnte glauben, daß der Krieg gerade erst zu Ende gegangen ist und man die Straßen noch gar nicht vom Schutt freigeräumt hat.

Auch Wertherbruch hatte es in den letzten Kriegstagen ziemlich böse erwischt, vielleicht war das Eisenwerk schuld oder auch nur die Grenzlage. Achtzig Prozent aller Häuser wurden zerstört. Aber davon habe ich nichts mehr zu sehen bekommen. Auch wenn man sich manche häßliche Lückenfüllung besser gespart hätte, hat man alles so rasch aufgeräumt, als sei gar nichts gewesen.

Hier hingegen hält man die ausgestellte Versehrtheit fast nicht aus. Klar, daß alle, die es sich leisten konnten, so schnell wie möglich von hier abgehauen sind, in Städte mit hübschen Vorgärten und ohne diesen ganzen Seelenschutt.

Herbst in Berlin. Absturzwetter. Wer hier keinen Moralischen kriegt, ist kein Mensch. Wie überlebt man hier? Wie hält man es hier aus? Befürchte, das wird ein langer Winter. Ich Volltrottel hätte doch genauso gut schon in Rom sein können. Gibt es das überhaupt, eine Schönheit im Häßlichen?

Obwohl es hier doch soviel aufzubauen gäbe, sehe ich kaum eine Baustelle. Fehlt das Geld? Fehlt der Elan? Hab gehört, daß einige Spekulanten ihre Häuser mutwillig leerstehen lassen, bis sie verrottet sind und man sie getrost abreißen kann. Also haben Studenten, Obdachlose und politische Aktivisten einige hundert von diesen Bruchbuden besetzt. Die müßten doch ziemlich froh sein, wenn sich für eine Weile mal ein zünftiger Dachdeckergeselle bei ihnen einquartiert und richtig mit anfaßt.

Echte Kumpel hatte ich eigentlich erst kurz vor der Mittleren Reife gefunden, ehe ich von der Schule abgehen mußte. Ich denke, bis zu einem gewissen Alter waren wir alle ziemlich einsam. Keiner weiß doch mit zwölf, dreizehn, wer er wirklich ist. Wir wissen nur, wir sind nicht mehr die, die wir vor kurzem noch waren. Also spielen wir uns und den anderen etwas vor. Sogar die Kameradschaft ist nur vorgetäuscht, wir tragen unsere Masken der coolen Typen und kennen unsere Freunde im Grunde gar nicht, so wenig wie sie uns kennen, weil sie sich ebenfalls hinter ihren Masken verstecken. In Wahrheit waren wir doch nur unsichere, aus der Traurigkeit der Kindheit gerissene Gespenster.

Also, was heißt schon „echte Kumpel“? August erweckte vor allem wegen seinem Jahrmarktsnamen Neugier. Er war der Grübler in der Klasse, sprach wenig, war aber immer hellwach. Obwohl, alles an ihm war dunkel, die Augen, das Haar, dazu trug er ständig schwarze Klamotten. Die Lehrer hatten Angst vor ihm. Vielleicht war ja sein Name schuld, daß er diesen finsteren Ernst ausstrahlte.

Er hatte eine nervtötende Art, mit seinem Haar zu spielen und es zu kleinen Löckchen zu zwirbeln. Das sollte nachdenklich wirken, und eine Weile habe ich es nachgeahmt, bis er es bemerkt und sich eine andere Marotte zugelegt hat. Solche Typen wie er haben eigentlich keine Freunde. Man kann mit ihnen keinen Spaß haben, kann sich in ihrer Gegenwart nicht gehenlassen. August trinkt nicht, raucht nicht, reißt keine schmutzigen Witze. In manchen Stunden, in Reli, in Deutsch und Geschichte sitzen wir nebeneinander, er wohnt eine Straße weiter, und gelegentlich radeln wir nach der Schule gemeinsam heim. Aber wir quatschen wenig. Bevor ich ihm gegenüber irgendwas Dummes von mir gebe, halte ich lieber die Klappe. Und er hält wahrscheinlich den Mund, weil ich ihn im Grunde nicht interessiere. Denk ich mir zumindest. Keine Ahnung, warum ich trotzdem immer wieder seine Nähe suche.

Im Sommer sind wir mehrmals zusammen im Freibad. Jedesmal behauptet er, seine Knete vergessen zu haben oder pleite zu sein und fragt dreist, ob ich ihm nicht ein Eis oder eine Pommes spendieren wolle. Hin und wieder ist das ja in Ordnung, aber dann revanchiert man sich beim nächsten Mal. Nicht so August. Für ihn scheint es eine Art Spiel zu sein: Wie weit kann er gehen, wie lange lasse ich es mir gefallen, bis ich ihn satt habe?

In der Schule ist es nicht anders. Natürlich darf er bei mir abschreiben. Doch wenn ich mal nicht weiterweiß, scheint er, dem doch sonst nichts entgeht, es gar nicht zu bemerken, ja zieht sein Heft noch weiter weg oder verdeckt mit seinem Arm meine Sicht. Doch anstatt das Kameradenschwein in den Wind zu schießen oder ihn mal gehörig zusammenzuscheißen: Hey, Kumpel, wenn es dir an meiner Seite nicht paßt, dann pflanz dich doch woanders hin! kriech ich ihm fast in den Arsch und erledige sogar manchmal die Hausaufgaben für ihn.

Bin mir nicht sicher, ob ich August überhaupt mag. Aber irgendwie fühle ich mich in seiner Gegenwart wichtig, während alle anderen ihm eher aus dem Weg gehen. Meinetwegen ist es auch gar nicht nötig, dauernd irgendeinen Blödsinn über das zu verzapfen, was gestern abend in der Glotze lief, oder sich gemeinsam am Wochenende die Birne wegzuschießen. Und sicher hätte ich noch eine ganze Weile irgendeine Ausrede gefunden, das Ganze romantisch zu sehen: zwei junge, melancholische Freunde, Schiller und Goethe, oder Hegel und Hölderlin, bis er mir eines Tages an den Kopf knallt: Weißt du was, Dunker, ich habe über uns nachgedacht und bin zu dem Ergebnis gekommen, daß du mir im Grunde nichts zu sagen hast. Besser, du läufst mir nicht länger nach und suchst dir einen anderen Kumpel.

Hier am Mariannenplatz habe ich fast zuviel Auswahl, mehr als zwei Dutzend Häuser sind in dieser Gegend besetzt. Wo soll ich nachfragen? Fühl mich hier im Berliner Grenzgebiet tatsächlich wie ein einsamer Cowboy. Nur daß die Indianer hier auch in schwarzer Kluft unterwegs sind. Das Beste ist wohl, ich orientiere mich am Zustand der Dächer. Wenn die Besetzer einigermaßen bei Verstand sind, werden sie gleich schnallen, daß sie mit mir das große Los gezogen haben. Aber sicher sein kann man sich da nicht, wenn ich mir die Sprüche auf den Bettlaken angucke, die sie aus den Fenstern gehängt haben.

Der Punk in der Tordurchfahrt nuschelt: Frag nach Pille, der hat hier das Sagen!

Das fängt ja gut an. Hätte nun wirklich gedacht, daß es solche Sager in einem besetzten Haus nicht mehr gibt. Dann stehe ich vor Pille und denke, na ja, es hätte auch schlimmer kommen können: Der Bursche ist so alt wie ich, mustert mich aber so unverschämt wie ein Bulle, bis sein Mund sich endlich zu einem breiten Grinsen verzieht: Was bist denn du für einer?

Mit Gunst und Verlaub, Dachdeckergeselle, Kumpel!

Nun bricht der Heini in schallendes Gelächter aus: Das hat uns wirklich noch gefehlt!

Mit Gunst und Verlaub, hab bereits einen Blick auf euer Dach geworfen. Winterfest sieht anders aus!

Da wirst du wohl recht haben. Aber das Haus ist voll. Und du willst uns ja nicht aufs Dach steigen, um anschließend im Freien zu pennen, oder?

Na, Kost und Logis muß schon sein. Ansonsten bin ich nicht anspruchsvoll. Ich such bei euch ja keine Wohnung. Vielleicht zieh ich schon in ein paar Tagen weiter.

Wenn es dir nichts ausmacht, kannst du in meiner Hütte ein Zimmer haben, mußt aber Küche und Klo mit mir teilen. Das Klo ist übrigens halbe Treppe.

Nun, das hört sich doch fast nach Kempinski an.

Okay. Dann schauen wir mal, ob das mit uns beiden gutgeht.