Mein Lebenslauf

von Franz Siedersleben

Herausgegeben von Wolfram Setz

Gebunden, 160 Seiten
Veröffentlichung: September 2023

Mein Lebenslauf

1903 veröffentlichte Magnus Hirschfeld im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen die „Lebensgeschichte des urnischen Arbeiters Franz S.“ Franz S. teilte nur wenige biographische Einzelheiten mit, konzentrierte sich ganz auf die Entwicklung seines Gefühlslebens. Seine volle Identität: Franz S. = Franz Siedersleben (1867 – 1908) wurde offenbar, als er wenige Jahre später seinen Kampf gegen den „starren Sitten- und Moralkodex der Kulturgesellschaft“ aufgab und seinem Leben ein Ende setzte.

Sein Freund und früherer Arbeitskollege Karl Frey veröffentlichte die Lebensgeschichte erneut, ergänzt durch biographische Details. Sie erlauben es, der Biographie dieses „urnischen Arbeiters“ deutlichere Konturen zu verleihen. Neben der „Sache der Homosexuellen“ galt sein Engagement der sozialen Frage, für die er sich als bekennender Sozialdemokrat in Wort und Tat einsetzte (einige Proben bietet der Textanhang). Ein herausragendes Beispiel: die „freie Turnsache“ des Arbeiter-Turnerbundes.

EDITOR'S NOTE
VORWORT [zur Ausgabe 1908]

Im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, mit besonderer Berücksichtigung der Homosexualität, V. Jahrgang 1903, Band I, herausgegeben im Namen des wissenschaftlich-humanitären Komitees von Dr. med. Magnus Hirschfeld, prakt. Arzt in Charlottenburg, hat der homosexuell veranlagte Arbeiter Franz Siedersleben* seine eigene Lebensgeschichte mit bewunderungswertem Mut und mit einer Offenheit selbst erzählt, wie wohl kein zweiter gleich veranlagter Mensch.

Franz Siedersleben hat, bis zu seinem freiwillig gesuchten Tod 1908, auf dem politischen und wirtschaftlichen Gebiet für die Allgemeinheit in uneigennützigster Weise gekämpft und auf dem gesellschaftlichen Gebiet durch sein Talent Tausende unterhalten und fröhliche Stunden verschafft. Die große Anzahl Bekannter von Franz Siedersleben hatte keine Ahnung von dem nagenden Wurm, von dem unerbittlichen Verfolger, der das Leben des Mannes auf Schritt und Tritt vergiftete und ihm das Leben zur Qual machte. Franz Siedersleben war vielen ein psychologisches Rätsel; im Kampf für die Interessen der Allgemeinheit unermüdlich eifrig, in Gesellschaft humoristisch unverwüstlich und doch voll idealer Gedanken, in der Einsamkeit brütete er jedoch finster vor sich hin.

Den Schlüssel zur Lösung des Rätsels gibt die vorliegende Schrift. Nicht Sensationslust, nicht Eigennutz liegt der Herausgabe der Lebensgeschichte Franz Siederslebens zugrunde; es war der eigene Wunsch des Verstorbenen, in die Öffentlichkeit zu treten und zu sagen, was ist. Leider haben die Dolchstöße wirtschaftlicher Not, das Vorurteil der Menschen gegen das Empfinden geschlechtlich abnorm veranlagter Menschen Franz Siedersleben ins Herz getroffen, so daß er den öfters gefaßten Entschluß, vor die Öffentlichkeit zu treten und das Recht, zu leben und zu lieben nach den eigenen Empfindungen, zu erkämpfen, aufgab, und ihm nur noch der Mut verblieb, seinem traurigen Dasein durch eine Kugel ein Ende zu bereiten.
Die Herausgabe der Schrift ermöglichte das Entgegenkommen des Herausgebers und des Verlegers der Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen, welche den Abdruck der von Franz Siedersleben selbst verfaßten Lebensgeschichte gestatteten. Ferner ist es dem Herausgeber der vorliegenden Schrift infolge des Einblickes in das Leben Franz Siederslebens seit 1903 möglich, durch den II. Teil der Schrift die Lebens- und Leidensgeschichte des Mannes zu vervollständigen. Wenn auch der Wunsch besteht, durch den Erlös der Schrift der in den dürftigsten Verhältnissen lebenden Familie des verstorbenen Franz Siedersleben Unterstützung zukommen zu lassen, so ist der eigentliche Grund zur Herausgabe doch darin zu erblicken, daß Aufklärung in geschlechtlichen Dingen äußerst not tut. Nicht Verachtung, Strafen und Kerker können geeignete Mittel sein, um Verfehlungen in geschlechtlichen Dingen zu sühnen und aus der Welt zu schaffen; Aufklärung, Klarheit, Wahrheit und Gerechtigkeit, verbunden mit geeigneten sozialen Einrichtungen, Werkstätten der Menschenliebe, sowie Selbsterkenntnis und Selbsterziehung, sind die einzig wirksamen Mittel zur Hebung wahrer Sittlichkeit. Möge diese Schrift einen bescheidenen Teil zur Aufklärung beitragen und allen Freunden des verstorbenen Franz Siedersleben willkommen sein.

Leipzig, im November 1908
Der Herausgeber [Karl Frey]

LESEPROBE
AUSZUG AUS „MEIN LEBENSLAUF“ VON FRANZ SIEDERSLEBEN

Über die nun folgende Periode meines Lebens will ich mich bemühen weniger ausführlich zu sein. Ich begann alsbald ein höchst unsolides Leben zu führen. Im Taumel aller möglichen tollen Vergnügungen suchte ich Zerstreuung, Vergessen. Eine wilde Flucht vor der gähnenden Leere, die in meinem Inneren zurückgeblieben war, begann nun. Und von dem ungeheuren Wust der widerstreitendsten Empfindungen, die mich dann wieder plötzlich durchtobten, hin- und her geschleudert, tappte ich suchend, wie ein Blinder.

Die tollste und ausgelassenste Gesellschaft ward mir bald die liebste. Eine schon ziemlich früh erwachte Vorliebe für dramatische Kunst und ein bescheidenes Talent in derselben, führte mich bald in Gesellschaften ein. In Dilettantenvereinen übte ich mit großer Hingabe meine kleinen Fähigkeiten und so bekam ich auch leicht Verkehr mit vielen jungen Leuten beiderlei Geschlechts. Ich wurde ziemlich schnell gewandt in allen Eigenschaften, die dazu gehören, in der Gesellschaft etwas zu scheinen, was man nicht ist.

Ich wollte ja durchaus das „himmlische Manna“ der Liebe schmecken, wovon mir Willy so begeistert erzählt hatte. Ich gab mir denn auch die größte Mühe, bei den Damen den Schwerenöter zu spielen. Denn, so dachte ich, was alle anderen mit so viel Geschick und Erfolg betrieben, warum sollte ich es nicht auch können, schließlich lag es am Ende bloß an meinem Mangel an Talent, die Gunst der Damen zu erwerben. So warf ich mich denn gewaltig in die Brust, um mich endlich zur Mannbarkeit aufzuraffen und den Hänseleien der anderen zu entgehen, die mich nur „den zarten Franz“ nannten. Und um auch auf den zahlreichen Kränzchen und Bällen der Vereine in Gesellschaft der Damen bestehen zu können, ging ich auch noch in die Tanzstunde und verliebte mich – in den jungen Kellner des betreffenden Restaurants. Er war ein bildhübscher Bursche mit pechschwarzem gekräuselten Haar und ein Paar kohlschwarzen Augen, die wie Diamanten funkelten. Ich hatte nur noch Blicke für ihn und wenn ich die Tanzerei noch mitmachte, so geschah es nur, um in seiner Nähe bleiben zu können. Ich suchte Annäherung und mit überraschend schnellem Erfolg.

Neue Seligkeit zog in mein Herz ein. In kurzer Zeit waren wir vertraut miteinander. Hier war ich wieder in meinem Element, hier durfte ich lieben, das fühlte ich sofort. Welch ein Unterschied! Während ich in Gesellschaft junger Damen mich mit meiner Rolle des Schwerenöters mühsam abquälte, trat hier wieder sofort das echte Feuer natürlicher Leidenschaft hervor. Hier gab echte Liebe das von selbst, wonach ich dort mühsam den Plan absuchte, um einen gequälten Abklatsch des „himmlischen Mannas“ zu erhalten, was ich gar nicht himmlisch fand, um mich künstlich und scheinbar daran zu ergötzen, zu dem Zweck, vor den Augen der Welt als das zu gelten, was ich nicht war. Als ich die ersten schüchternen Liebkosungen wagte, fühlte ich, daß sie ihm nicht unempfindlich waren. Er erwiderte sie und jubelnd ahnte ich in meinem Liebling eine verwandte Seele. Ich widmete ihm all die Hingabe, deren nur die echte Liebe fähig ist.

All die kleinen Aufmerksamkeiten, in der die Liebe so selbstlos, so erfinderisch ist, tauschten wir nun gegenseitig aus. Doch das Auge des Gesetzes wacht und der beleidigte Sittenkodex der „Normalen“ im Land schrie nach Sühne. Unvorsichtig und tollkühn ist die Liebe.

Eines Abends spät ereilte uns das Verhängnis, das für mein Leben so folgenschwer werden sollte. Wir wurden beide vom Wirte in einem hinteren Zimmer bei frischer Tat ertappt. Die Situation war über jeden Zweifel erhaben und wir konnten uns auch nicht mehr retten, da wir ganz unvermutet überrascht wurden. Ein unbeschreiblicher Skandal folgte. Man brüllte nach dem Arm des Gesetzes.

Ich wurde festgehalten und mußte noch mit ansehen, wie der Wirt meinen Liebling brutal mißhandelte. Wahnsinniger Schmerz durchtobte mein Innerstes und zitternd bat ich um Schonung für den Armen. Willig folgte ich dann dem Diener der heiligen Gerechtigkeit. Ich befand mich in einer Art Traumzustand, sah und hörte kaum, was um mich herum geschah. Wie in nebelhafter Ferne erschien mir alles. Und immer weiter und weiter rückten Welt und Menschen von mir ab, so daß ich sie nicht mehr erkennen konnte. Zwei Monate saß ich in Untersuchung, ich begriff nicht, weshalb, da ich alles eingestanden hatte. Was ich in dieser Zeit einsamer Zellenhaft ausgestanden, genügte, um mich vollständig niederzuschmettern. Mit all ihrer Schärfe hielt die beleidigte Moral ihr Strafgericht über mich. Nichts blieb mir an Demütigungen erspart. Schon auf dem Polizeipräsidium schallte mir die Stimme des diensttuenden Beamten entgegen: „Ein Päderast! Ein Päderast! In Einzelhaft mit dem!“

Ich hatte keine Ahnung von der Bedeutung dieses Wortes. Aber die Art, wie mir dies offenbar inhaltsschwere Wort entgegengeschleudert wurde, ließ mich ahnen, welch ein verabscheuungswürdiger Verbrecher ich sein mußte. In ohnmächtiger Verzweiflung wand ich mich auf dem Boden meiner einsamen Zelle. War ich denn wirklich eine so schändliche Kreatur? Wen hatte ich denn beleidigt, wem etwas genommen, wem hatte ich ein Leid zugefügt? In meiner hilflosen Verwirrung vermochte ich keinen klaren Gedanken zu fassen. Verbrecher, Verbrecher, Päderast! höhnte es mir nur immer in die Ohren.

„Bedenke doch, was du nun geworden bist!“ so hieß es in dem Briefe, den mein ältester Bruder unter dem Eindruck der Nachricht meiner Verhaftung an mich geschrieben und in dem er sich im Namen der ganzen Familie von mir lossagte. In meiner grenzenlosen Verzweiflung über alles dieses reckte ich schließlich die Arme gen Himmel und erflehte von Gott irgendeine Gewißheit, wie weit die Größe meines Verbrechens reichte. Aber der Himmel rührte sich nicht und ich fand nicht einmal Trost in der tränenvollen Buße und Reue, der ich mich in kraftloser Zerknirschung nun hingab. Ich wußte ja nicht, was ich eigentlich büßen sollte, bei wem ich um Verzeihung für zugefügte Schmach betteln sollte. Die Stunde meiner Aburteilung schlug und hier sah ich meinen Liebling wieder. Bei seinem Anblick brach ich in Tränen aus. War er es am Ende, dem ich Beleidigung und Schande zugefügt?

Aber, o Wunder, als wir beide vor der Balustrade nebeneinander standen, um unseren Richtern Rede und Antwort zu stehen, fühlte ich plötzlich seine Hand in der meinen, die er einen Moment zärtlich und verstohlen drückte. Da zog es einen Augenblick wie stiller Friede durch meine Seele und ruhig und gefaßt antwortete ich auf die Fragen des Präsidenten. Freilich, nur einen Augenblick bewahrte ich meine Fassung, dann war es wieder vorbei, als der Herr Staatsanwalt für mich, als den Verführer, nach § 175 des Str.-G.-B. eine empfindliche Strafe verlangte.