Wir Propagandisten

von Gabriel Wolkenfeld

Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, ca. 280 Seiten
Veröffentlichung: September 2023

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Wir Propagandisten

Gabriel Wolkenfelds Roman „Wir Propagandisten” entstand 2013 als literarische Reaktion auf die Verabschiedung des sogenannten Homopropaganda-Gesetzes in Russland. Das Buch erzählt die Geschichte eines jungen Deutschen, der ein Jahr lang als Sprachlehrer in Jekaterinburg Land und Leute kennenlernt und dabei die Einführung des Gesetzes vor Ort mitbekommt. In klarer, doch assoziativer Sprache zeichnet der Text ein lebendiges Porträt des Alltags jenseits des Kremls, berichtet von Wodka-Gelagen in WG-Küchen, von schwulen Hinterhof-Partys, von zaghaftem Widerstand und geflüsterten Geständnissen, aber auch von der Angst, die sie auslösen. Und immer wieder von den lichten Momenten seligen Trotzes, die stärker sind als das Poltern der Gegner: „Verdammt noch mal, denke ich, das Leben ist schön. Wir haben – auf absehbare Zeit zumindest – nur dieses eine.“

Zehn Jahre nach seiner Entstehung ist „Wir Propagandisten” aktueller denn je. Nicht nur wurde das Homopropaganda-Gesetz seither von Ländern wie Ungarn adaptiert und in Russland 2022 nochmals verschärft, es lädt im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auch zu neuem Nachdenken über die Zusammenhänge von chauvinistisch-autoritären Machtstrukturen und Homophobie ein. In einem aktuellen Nachwort reflektiert Gabriel Wolkenfeld die jüngsten Entwicklungen und setzt sie in Beziehung zu seinem Roman.

BIOGRAFIE

GABRIEL WOLKENFELD, 1985 in Berlin geboren, studierte Germanistik, Russistik und Literaturwissenschaft und lebte für jeweils ein Jahr in Estland, Russland und der Ukraine. Neben den Romanen „Wir Propagandisten“ und „Babylonisches Repertoire“ veröffentlichte er die Gedichtbände „Sandoasen (Israelisches Album)“ und „Nebelatlas (Ukrainisches Album)“. Für seine Lyrik gewann Wolkenfeld u. a. den Hanns-Meinke-Preis und den Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis.

WRITER'S STATEMENT
AUSZUG AUS GABRIEL WOLKENFELDS NACHWORT ZU „WIR PROPAGANDISTEN“

Mein Roman „Wir Propagandisten“ basiert auf Erfahrungen, die ich während eines einjährigen Aufenthalts als Stipendiat des DAAD in Jekaterinburg machen durfte. Mir war bewusst, dass ich das Land in einer Zeit des Umbruchs erlebte, und so hielt ich meine Eindrücke in Form eines literarischen Tagebuchs fest. Die Entscheidung, daraus ein Buch zu machen, fiel jedoch erst später, als kurz nach meiner Wiederkehr aus Russland in Berlin und auch in anderen europäischen Metropolen Menschen vor allem aus der queeren Community auf die Straße gingen, um gegen ein neues Gesetz zu demonstrieren.

Am 11. Juni 2012 verabschiedete die Duma einstimmig mit 436 Ja-Stimmen bei nur einer Enthaltung in zweiter und dritter Lesung ein Verbot der Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen gegenüber Minderjährigen. Dieses galt schon seit 2006 in ähnlicher Form in verschiedenen Regionen des Landes, wurde nun aber auf föderale Ebene übertragen.

Was steckt dahinter? Die Chiffre „nicht-traditionelle Beziehungen“ bezieht sich im russischen Sprachgebrauch auf Beziehungen zwischen Menschen, die dem gesamten Spektrum sexueller Minderheiten angehören. Das Gesetz verbietet Minderjährigen gegenüber positive oder wertfreie Äußerungen in Hinblick auf alles, was LGBTIQ betrifft. Damit drohen Menschen, die sich in der Öffentlichkeit, auch etwa über das Internet, positiv oder neutral zum Thema äußern, Geldstrafen und sogar Haft, sofern die jeweilige Plattform ohne den Warnhinweis 18 + von Minderjährigen zur Kenntnis genommen werden kann.

Zurück in Deutschland, kam ich mir ziemlich nutzlos vor. Meine Freunde in Russland wurden in ihren Rechten beschnitten. Im Internet wurde zur Jagd auf sie aufgerufen. Ich hatte mein Studium beendet, erste Arbeitserfahrungen gesammelt und wusste doch nicht viel mit mir anzufangen. Daher ging ich kurzerhand auf den Vorschlag meines damaligen Verlegers Joachim Bartholomae ein, aus meinem auf Alltagsbeobachtungen basierenden Essay einen Roman zu machen.

Ich hatte die Befürchtung, die im Buch erzählte Geschichte könnte als Fiktion abgetan werden. Zu unreflektiert schien mir der Umgang mit Russland in der deutschen Öffentlichkeit. Mein Anspruch war es, das Russland, das ich kennengelernt habe, in all seiner Vielfalt, aber auch Widersprüchlichkeit zu zeigen. Daher nahm ich mir vor, mich möglichst genau an das Erlebte zu halten. Während ich in der Gestaltung der Figuren aus Respekt vor den echten Personen vom realen Vorbild abwich, bemühte ich mich in der Beschreibung von alltäglichen Erlebnissen um größtmögliche Exaktheit.

Vielleicht weil ich zuvor keinen Roman geschrieben hatte, konnte ich mir zunächst nicht vorstellen, einen zu schreiben. Erst während des Schreibens gewann ich die nötige Zuversicht – und auch wenn ich in meinen späteren Büchern andere Wege eingeschlagen habe, bleibt „Wir Propagandisten“ für mich ein besonderes Buch. Es ist das Buch, das ich genau an diesem Punkt in meinem Leben habe schreiben wollen, in der Art, wie sie meinem bald dreißigjährigen Ich entsprach.

Die Romanform hat es mir erlaubt, über die rein faktische Ebene hinaus ein Bild der Öffentlichkeit zu entwerfen, in der ich gelebt habe. Der deutsche Gast, obwohl doch zunächst recht ungelenk, bewegt sich durch die ihm fremde Stadt. Zusammen mit den Leser:innen des Buches lernt er Jekaterinburg kennen. Gebrochen wird die limitierte Perspektive des namenlosen Erzählers durch die Stimmen seiner Freunde und Bekanntschaften, Kolleginnen am Lehrstuhl, Ärzt:innen …

Während mein Buch mit der Verabschiedung des Homopropaganda-Gesetzes endet, brach in Russland, ausgelöst durch die Kriminalisierung sexueller Minderheiten staatlicherseits, eine Zeit der zunehmenden Diskriminierung von LGBTIQ an. Was ist seitdem passiert? Wie haben sich die Gesetze auf den Alltag von queeren Menschen ausgewirkt? Wie ist es den Menschen ergangen, die ich während meines Russlandjahres kennengelernt habe?

Diese und weitere Fragen beantwortet Wolkenfeld im Nachwort von „Wir Propagandisten“

Leseprobe
Auszug aus „Wir Propagandisten“ von Gabriel Wolkenfeld

Wir fahren, von einer der Hauptstraßen kommend, in einen dunklen Hinterhof hinein. Weder Lichter noch Menschen, nicht einmal der Schatten einer Katze huscht vorüber. Hier, fragt der Fahrer verunsichert. Und Mitja drückt ihm einen Schein in die Hand. Wir laufen noch ein paar Meter weiter, darauf bedacht, den schmalen Pfad zwischen den Pfützen nicht zu verfehlen; schließlich erreichen wir ein geducktes Gebäude, das an eine Sporthalle erinnert, bloß ohne Fenster, farblos und quadratisch. Über der Tür, in lateinischen Buchstaben, hängt ein bescheidender Schriftzug, der Großes verkündet: Chance.

Ich komme mir, den Blicken der Türsteher ausgesetzt, wie siebzehn vor, unfertig, darauf gefasst, eine Enttäuschung zu erfahren, abgewiesen zu werden. Während Goscha und Mitja munter weiterplappern, halte ich den Kopf in der Schräge. Die Männer, die uns aus der Dunkelheit entgegenkommen, tasten uns mit ihren Blicken ab, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Wir laufen geradeaus, kahle Wände entlang, biegen, an den Toiletten vorbei, um die Ecke und betreten einen Raum, der eher einem Speicher als einer Bar ähnelt, grau und geräumig, junge Männer statt Bilder und Interieur, wie zufällige Farbklekse auf einer Leinwand. Full house, staune ich. Was hast du erwartet? Die mit Samt bezogenen Galerien seitlich der Tanzfläche sind bis auf den letzten Platz besetzt. Um die hufeisenförmige Bar tummeln sich: Schönheiten, die nicht wissen, dass sie welche sind, in gewöhnlichen Jeans und Karohemden, mit wilden Augen und struppigem Haar. Und Schönheiten, die wissen, dass sie welche sind, in schwarzen Stoffhosen, weißen Hemden und Körpern, die von der Natur reich beschenkt oder im Studio korrigiert wurden. Kobolde und Wichtelmänner gibt es auch. Die nimmt man erst wahr, wenn man sich an dem Schönen und allzu Perfekten sattgesehen hat. Schurik winkt mir aus der Mitte des Raumes zu. Goscha und Mitja, in jeder Hand ein Bier, schieben sich durch die Menge. Wir stehen seitlich der Bühne an einer kalkweißen Säule.

Das kann man natürlich nicht mit Berlin vergleichen, entschuldigt sich Schurik. Warum nicht? Mir gefällt es. Die Leute sind nett. Es ist viel los. Die Musik – ich halte im Satz inne, um mein Urteil abzumildern. Aus den Boxen dudelt russischer Pop, ein Sowjetschlager im Uffta-Uffta-Remix. Nach dem dritten, vierten Lied kommt es mir vor, als sei ein und derselbe Takt allen Liedern unterlegt. Halte dich gut an ihn, dann kann gar nichts schiefgehen, witzelt Mitja. Und legt versuchsweise seinen Arm um meine Hüfte. Goscha und Schurik ziehen es vor, eine gewisse Distanz zu wahren. Lieber schreien sie sich aus sicherem Abstand an, als einander Liebkosungen ins Ohr zu flüstern. Geht ihr oft hierher? Sind zum ersten Mal hier, brüllt Goscha mir zu. Zum ersten Mal? Mitja, der ist jede Woche hier. Wir aber sind anständige Jungs. Du spinnst wohl! Ab und an vielleicht, verteidigt sich Mitja, in letzter Zeit kaum noch. Weil sie dir Hausverbot erteilt haben, grölt Goscha. Und Mitja hält seinem Freund eilig den großen, weit aufgerissenen Mund zu.

Schließlich flaut der dröhnende Bass ab. Ein einzelner Scheinwerfer ist auf die kleine Bühne gerichtet, drum herum: finstere Nacht. Eine weißgepuderte Königin mit langem, wallendem Haar und Beinen, die kein Ende nehmen, löst sich aus dem Dunkel. Ihrem Kleid sind Eisblumen eingenäht und auf dem Kopf trägt sie eine Tiara. Die Jungs, die eben noch, zur Pose erstarrt, auf ihren Barhockern saßen, klatschen, in die vorderen Reihen drängend, begeistert Beifall. Die stumme Chanteuse streicht lässig über ihr Kleid und verfällt, dem einsetzenden Beat erliegend, in Tanzschritt. Ihre Augen weiten sich. Und der Mund – dramatisch! – verzieht sich in alle Richtungen.

Die Königin will, verdammt noch mal, tanzen, mit jemandem, der sie, verdammt noch mal, liebt. Im finalen Refrain dann springt ein junger Mann im Knappenkostüm auf die Bühne und erfüllt seiner Angebeteten ihren sehnlichsten Wunsch. Geht das den ganzen Abend so weiter, frage ich vorsichtig. Und Mitja: Schön, oder? Ich nehme einen kräftigen Schluck und taste meine Hosentaschen verzweifelt nach einer Zigarette ab.

Ist der junge Mann in der ersten Einstellung nach dem Lied noch in voller Montur zu bewundern, sind – das Licht geht aus und wieder an – in der zweiten Einstellung die Hüllen gefallen: Der junge Mann steht, sich das Höschen vor die Lenden haltend, nackt auf der Bühne und präsentiert ein verblüfftes Gesicht. Die Königin, nun eine Göre, lächelt verschmitzt und das Publikum applaudiert. Kaum schwingt sie ihren feenhaften Zauberstaub, hat sich der junge Mann in Luft aufgelöst. Das Publikum buht. Und die Göre, nun wieder eine Königin, ergeht sich in Schimpftiraden: Die Königin – laut Plan – ist beleidigt. Und, mal ehrlich, was kann eine Dragqueen besser, als beleidigt sein? Goscha erstickt fast an seinem Lachen. Auch Mitja prustet. Um Schuriks Lippen spielt verhalten ein Lächeln. Ich starre der Königin auf den himbeerroten Mund. Und verstehe nichts. Spricht sie noch Russisch? Wie man es auf der Straße spricht, erklärt Schurik. Höre besser nicht zu, sagt er. Und hört weiter zu.

Die Dunkelheit ebnet Narben und Akne ein. Das matte Licht, das von der Bühne abfällt, frisiert meine Freunde. Zwei Tänzer, Spielzeuge der Königin, zeigen dem Publikum, wie man tanzen könnte, gelänge es, sich für einen Augenblick zu vergessen. Einer davon könnte der Knappe sein, aber mit Bestimmtheit ist das nicht zu sagen: An sein Gesicht fehlt jede Erinnerung. Was ist, fragt Mitja. Und hält mir ein frisch gezapftes Bier vor die Nase. Ich setze meine Lippen auf die knisternde Schaumkrone. Und Mitja setzt seine Lippen auf meine Lippen. Immer habe ich in der Ecke gehockt, verzweifelt, niemand würde mich zu einem Tanz auffordern, verzweifelt, jemand könnte mich zu einem Tanz auffordern. Verrückt, oder? Willst du tanzen, fragt Mitja. Nein, rufe ich. Nein. Und mein Körper – vielleicht folgt er dem Beat oder den hypnotischen Verrenkungen der Animateure – setzt sich in Bewegung. Ich vergesse, dass ich nicht tanzen kann. Und tanze. Wer hätte gedacht, dass ich ausgerechnet hier, im Schatten der Partytransen, tanzen lerne?