Mein Bruder Yves

von Pierre Loti

Übersetzt aus dem Französischen von Robert Prölß
Vor-/ Nachwort: Wolfram Setz

Hardcover, 312 Seiten

Veröffentlichung: April 2020

Zum Buch im Salzgeber.Shop

Mein Bruder Yves

Als Angehöriger der französischen Kriegsmarine lernte Julien Viaud Weltmeere und Kontinente kennen, als Pierre Loti formte er aus seinen Erlebnissen eine Fülle von Romanen und Reiseberichten, die den Leser nach Konstantinopel, Palästina, Marokko und bis nach Japan und China führen.

In seinem frühen Roman „Mein Bruder Yves“ (1883) geht es um ferne Länder nur am Rande; im Zentrum steht das Leben auf dem Schiff und die besondere Beziehung zwischen dem Icherzähler und Yves Kermadec, dem „geschicktesten, seetüchtigsten Mann“ an Bord, der jedoch an Land dem Teufel Alkohol nicht entrinnen kann. Seine Schönheit – er ist „groß, schlank wie eine Antike, mit muskulösen Armen, dem Hals und den Schultern eines Athleten“ – fasziniert den Erzähler. Er sieht es als seine Aufgabe an, Yves vor seiner eigenen Zügellosigkeit zu schützen, hat dies auch Yves’ Mutter versprochen.

Der autobiografische Hintergrund des Romans ist besonders deutlich. Die beiden fast gleichaltrigen, aber vom Temperament und von der sozialen Stellung her ungleichen Männer verband eine lebenslange Freundschaft, von der diverse Notate, Briefe und Fotos Zeugnis ablegen; der auch zeichnerisch begabte Pierre Loti imaginierte seinen „Bruder“ dabei auch als nackten keltischen Heroen in mythischer Landschaft.

Galerie

LESEPROBE

I

Das Führungsbuch meines Bruders Yves gleicht allen anderen Büchern anderer Seeleute. Es hat einen Umschlag von gelbem, pergamentartigem Papier, und da es in verschiedenen Schiffskasten viel auf dem Meere herumgereist ist, sieht es schlecht genug aus. Mit großen Buchstaben steht auf dem Umschlag:

KERMADEC, 2091. P.
Kermadec ist sein Familienname, 2091 seine Nummer in der Marine und P. der Anfangsbuchstabe seines Gestellungsortes: Paimpol.

Schlägt man es auf, so findet man auf der ersten Seite folgende Angaben:

Kermadec (Yves-Marie), Sohn des Yves-Marie und der Jeanne Danveoch. Geboren am 28. August 1851 in Saint-Pol-de-Léon (Finistère). Größe 1 m 80. Haare kastanienbraun, Augenbrauen kastanienbraun, Augen gelblichgrau, Nase mittel, Kinn gewöhnlich, Stirn gewöhnlich, Gesicht oval.
Besondere Kennzeichen: Die linke Brust zeigt die Tätowierung eines Ankers, das rechte Handgelenk die eines Armbands mit einem Fisch.

Diese Tätowierungen waren vor etwa zehn Jahren unter den echten Seeleuten noch Mode. An Bord der »Flore« von der Hand eines dienstfreien Kameraden ausgeführt, sind sie für Yves zu einem Gegenstande der Verzweiflung geworden, und mehr als einmal schon hatte er sich vergeblich abgequält, sich von ihnen zu befreien. Der Gedanke, auf eine unvertilgbare
Weise gezeichnet zu sein und immer und überall an diesen kleinen blauen Bildern erkannt zu werden, war ihm unerträglich.

Blättert man weiter, so findet man eine Reihe bedruckter Seiten, welche kurz und bestimmt die Vergehen aufzählen, die unter Matrosen üblich sind, mit den darauf stehenden Strafen – von den leichtesten Übertretungen an, die mit ein paar in Eisen verbrachten Nächten bestraft werden, bis zu den schweren Widersetzlichkeiten, auf denen Todesstrafe steht.

Leider hat die tägliche Lektüre dieser Strafbestimmungen nicht genügt, unserem Freunde Yves, wie allen übrigen Seeleuten auch, den beabsichtigten heilsamen Schrecken einzuflößen.

Es folgen sodann einige beschriebene Seiten, welche die Namen von Schiffen, mit blauen Siegeln, den Zeichen und Zeitangaben enthalten. Die Schiffsschreiber, Leute von Geschmack, haben diesen Teil mit eleganten Namenszügen geschmückt. Hier stehen seine Seefahrten verzeichnet und die Löhne, die er dafür erhalten hat.

Zuerst kamen Jahre, in denen er fünfzehn Franken monatlich bezog, von welchen er zehn für seine Mutter zurücklegte; Jahre, die er, die Brust den Winden preisgegeben, halbnackt, hoch oben auf den großen, schwankenden Masten verbrachte und sorglos die wechselvolle Wüste des Meeres durchirrte; hierauf kamen bewegtere Jahre, in denen die Liebe erwachte und Gestalt in der noch jungfräulichen, naturwüchsigen Seele gewann, um sich bald in Träumen naiver Unschuld, bald in den brutalsten Ausschweifungen zu entladen, je nach dem Ort, an den der Wind ihn gerade hintrieb, und je nach den Frauen, die ihm der Zufall in die Arme warf; furchtbares Erwachen, mächtiger Aufruhr des Herzens und der Sinne, denen die Rückkehr zu dem enthaltsamen Leben des weiten Meeres, zu der Abgeschlossenheit des fliegenden Klosters folgte. Dies alles ist hinter diesen Zahlen, Namen und Zeitangaben verborgen, die sich von Jahr zu Jahr in dem armseligen Führungsbuch eines Seemannes anhäufen. Ein ganzes, großes, fremdartiges Gedicht von Abenteuern und Elend ist in diesen vergilbten Blättern enthalten.

BIOGRAFIE

PIERRE LOTI, als Louis Marie Julien Viaud 1850 in Rochefort geboren und 1923 in Hendaye (Pyrenäen) gestorben, gilt mit seinen mehr als zwei Dutzend Romanen und Reiseberichten vor allem als Vertreter eines literarischen Exotismus. Der 1883 erschienene Roman „Mon frère Yves“ ist einer der frühesten „homoerotischen“ Romane der französischen Literatur. In Frankreich hat er bis heute viele Leser gefunden; die 1894 in einer Romanzeitschrift und 1901 als Buch erschienene deutsche Übersetzung von Rudolf Proelß wird hier nach mehr als hundert Jahren neu aufgelegt.