Pathologien

von Jacob Israël de Haan

Übersetzt aus dem Niederländischen von Olaf Knechten

Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 360 Seiten

Veröffentlichung: März 2022

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Pathologien

Johan ist jung, schön und hat alles, was er braucht. Mit seinem Vater und der alten Haushälterin Sien lebt er in einem großen Haus am Markt des traditionsreichen Städtchens Culemborg, genießt das noble Leben und studiert die wissenschaftliche Literatur des Vaters. Im Laufe der Pubertät überkommen ihn sexuelle Fantasien mit anderen Jungen, die sich auch auf seinen Vater ausdehnen. Als Johan sich seinem Vater offenbart, wendet der sich empört von ihm ab. Doch der belesene Johan ist überzeugt, dass seine Art zu lieben das gleiche Recht hat wie die Liebe der anderen. Er verlässt das Haus des Vaters, zieht in eine Pension, lernt den Maler René Richell kennen und lieben. Doch schon nach wenigen Wochen ungetrübten Glücks kommen Renés sadistische Neigungen zum Tragen – der Beginn eines brutalen Ringens von Liebe, Abhängigkeit und Verachtung, an dem Johan zugrunde gehen wird.

Der jüdisch-niederländische Jurist und Autor Jacob Israël de Haan ist international vor allem bekannt, weil er 1924 in Jerusalem einem politischen Mord zum Opfer fiel. Zuvor hatte er 1904 mit „Pijpelijntjes“ den ersten homosexuellen Roman der Niederlande herausgebracht. Das Buch kostete ihn seine Anstellungen als Lehrer und Journalist, hielt ihn aber nicht von der Veröffentlichung von „Pathologieën“ (1908) ab. In Anbetracht seiner Entstehungszeit geht der Roman ungemein selbstbewusst an das Thema Homosexualität heran: Obwohl der Vater ihn dafür moralisch verdammt, lebt Johan sein Anderssein unbefangen aus – bis er an René gerät. Zum 100. Jahrestag der Ermordung de Haans im Juni 2024 hat der Übersetzer Olaf Knechten Pathologien erstmals ins Deutsche übertragen. Zudem enthält diese Ausgabe de Haans Erzählung „Die Erlebnisse des Hélénus Marie Golesco“ und ein Nachwort des niederländischen Soziologen Gert Hekma.

Biografie

JACOB ISRAËL DE HAAN, geboren 1881 in Smilde, Niederlande, wuchs in armen Verhältnissen auf. Er machte eine Ausbildung zum Grundschullehrer, studierte Jura und wurde Vertreter einer semiologischen Rechtslehre („Significa“). Er arbeitete als Journalist und Dichter und veröffentlichte 1904 mit „Pijpelijntjes“ den ersten homosexuellen Roman der Niederlande. „Pathologien“ (OA 1908) ist sein zweiter Roman. Ende der 1910er Jahre schloss sich de Haan der zionistischen Bewegung an und zog nach Israel. Weil ihn der kämpferische Nationalismus der Zionisten zunehmend abstieß, wechselte er zum orthodoxen Judentum und kritisierte in Artikeln für niederländische und englische Zeitungen den Zionismus, was ihm den Hass vieler Mitbürger eintrug. 1924 wurde er von einem Mitglied der zionistischen Haganah ermordet.

LESEPROBE
AUSZUG AUS „PATHOLOGIEN“ VON JAKOB ISRAËL DE HAAN

TEIL II – Für Herman Bang, Kapitel 5

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Danach besserte sich René plötzlich. Er arbeitete konzentriert, nahm weder Absinth noch Opium zu sich und verzichtete darauf, Johan zu demütigen. Der schrieb seinem Vater:

Mein lieber Vater,
ich danke Ihnen für Ihr freundliches Angebot, wieder mit mir zusammenzuwohnen, sollte dies notwendig werden. Doch ich glaube, es wird nicht nötig sein. Es ist besser, wenn ich lerne, ganz auf mich selbst zu vertrauen. Dieses letzte Jahr vor Beginn meines Studiums will ich lieber in Haarlem bleiben, weil ich sonst wieder die Schule wechseln müsste.
Ihr Sohn Hans

Johan blieb ganz ruhig, während er dies schrieb, aber er musste seinen großen Kummer hinunterschlucken. Er wusste, dass er nicht mehr Herr über sein eigenes Leben war, das war jetzt René. Als er zu René sagte, er wolle doch lieber bei seinem Vater wohnen, antwortete der: »Natürlich kannst du tun, was du willst. Aber wenn du weggehst, bevor ich es will, verrate ich allen, wie wir zusammengelebt haben, und bringe mich anschließend um. Dann kannst du dir auch einen Strick nehmen, Johan, denn dann bist du gesellschaftlich erledigt.“

Worunter Johan am meisten litt, war das Gefühl der Erniedrigung, weil er der Macht eines anderen unterworfen war.

Als Renés Leben wieder in geordneteren Bahnen verlief, freute sich Johan sehr. Er dachte: „René will nie, dass jemand merkt, wenn er etwas um eines anderen Menschen willen tut, aber ich glaube doch, dass er meinetwegen wieder ein geregeltes Leben führt.“

Johan erlebte Tage, die der schönsten Zeit ihrer Beziehung in nichts nachstanden.

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In dieser wunderbaren Zeit malte René ein Porträt von Johan, das schöner war als sein Porträt von H. M. Golesco. Es war so schön wie das, welches Johan von René gemalt hätte, wäre er dazu fähig gewesen.

Das Gemälde war sehr genau, mit klaren Farben und Linien, jedoch nicht hart, sondern von sanfter Perfektion. René ist also doch ein empfindsamer Künstler, dachte Johan, von besserem Charakter, als seine Worte und Taten vermuten lassen.

Nachdem René ihm dieses exquisite Bildnis geschenkt hatte, schrieb Johan gerührt eine ausführliche Beschreibung davon. Als er die Seite anschließend durchlas, dachte er: Wie lange ist es doch her, dass ich mich hingesetzt und einen solchen Text verfasst habe.

Einige Tage später sagte René ruhig, aber bestimmt, er habe beschlossen, dass sie beide bei den Riemersmas ausziehen und sich in seinem schönen Haus am Koudenhorn niederlassen würden. Johan bekam große Angst, als er das hörte, denn obwohl sie sich gerade gut verstanden, fürchtete er sich vor Renés Macht über ihn. Und er schämte sich dafür.

Vorsichtig und kleinlaut wandte er ein: „Wenn du das unbedingt willst, bin ich einverstanden. Aber ich halte es für keine kluge Idee. Die Riemersmas würden sich schrecklich grämen.“

„Na, umso mehr Grund, es zu tun.“

„Ach, das sagst du doch nur so. Das meinst du nicht ernst.“

„Ich meine es auch nicht ernst, aber schließlich tue ich nicht das, was ich meine, sondern das, was ich sage. Und ich sage dir, dass mir diese beiden Menschen völlig egal sind. Ein Mann ohne Zukunft und eine Frau ohne Vergangenheit … ich kann sie nicht ausstehen.“

Doch dann fuhr René völlig ruhig und beherrscht fort: „Vermutlich meinte ich das mit dem Umziehen auch gar nicht ernst. Aber ich bin froh, dass du dich nicht geweigert hast. Denn sonst wäre es tatsächlich passiert. Aber jetzt ist es nicht mehr nötig.“

Johan fühlte sich aufs Neue gedemütigt. Verzweifelt dachte er: Ich fahre zu meinem Vater nach Amerika. Doch er wusste zugleich, dass er es aus Angst vor René niemals tun würde.
Johan fühlte sich nur noch erniedrigt und verloren. Er vernachlässigte die Schularbeit und erhielt zuerst Vermerke und dann Tadel, was das Gefühl der Demütigung noch verstärkte.

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Später fasste sich Johan wieder und war froh, als René über lange Zeit fleißig arbeitete, sich ihm gegenüber liebevoll verhielt und keine übertriebenen Forderungen stellte. In ihre Beziehung war Ruhe eingekehrt, aber sie sprachen viel über ihre Vergangenheit. Johan berichtete von der Zuneigung für seinen Vater, die unverändert stark, aber von anderer Natur war als früher. René erzählte von seinem Leben im Morast der Städte. Er sprach klar und geradheraus und machte keine boshaften Bemerkungen. Johan genoss diese Zeit sehr und hoffte, dass die Verbesserung ihrer Beziehung von Dauer sein würde. Er liebte René.

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Dann sagte René in die Stille des abendlichen Lampenscheins hinein: „Hans, weißt du, warum ich so glücklich bin, alles über dein Leben zu wissen? Weil du jetzt völlig in meiner Hand bist.“

Johan erschrak. Er hatte René lange nicht so reden gehört. Gelassen fügte der hinzu: »Wirklich, Hannie, eine Beziehung wie die unsere wäre für mich unvorstellbar, wenn ich nicht das Sagen hätte. Denn dann müsste ich mich beherrschen, was ich ungesund und unmoralisch finde. Aber das ist jetzt nicht mehr nötig. Ich weiß so viel über dich, dass ich totale Kontrolle über dich habe.«

„Aber ich weiß jetzt auch so Einiges über dein Leben. Und du wärst gewiss nicht sehr glücklich, wenn ich das herumerzählen würde.«

„Du weißt gar nichts über mein Leben. Die Geschichten, die ich dir erzählt habe, sind frei erfunden. Du kannst bei meinen Bekannten in London und Paris nachfragen. Sie werden bestätigen, dass nichts davon wahr ist.“

Von René gedemütigt und gequält, erwiderte Johan matt: »In dem Fall bist du einfach bodenlos unmoralisch.“

„Oh ja“, sagte René, „das bin ich auch. Und das Schönste daran ist, ich bin es gern. Ich bin sogar stolz darauf.«

Dann fügte er hinzu: „Diese Unmoral ist so wunderbar köstlich. Du wirst es nie begreifen.“