Der Engel der Geschichte

von Rabih Alameddine

Gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 304 Seiten

Veröffentlchung: September 2018

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Der Engel der Geschichte

Jakob, Mitte 50, sitzt im Wartezimmer einer Nervenklinik und bittet um Aufnahme. Er erlebt die Welt als eine einzige Katastrophe: Zwanzig Jahre ist es her, dass sein gesamter Freundeskreis der Aids-Epidemie zum Opfer fiel. Dieser Verlust hat einen Schmerz hinterlassen, der sich in jeden Winkel seiner Persönlichkeit gegraben hat. Und nun tobt im Jemen, einer Heimat, ein endloser Bürgerkrieg.

Jakob will nur noch vergessen, doch in seinem Kopf hört er Stimmen: Satan und die 14 Nothelfer wollen ihn dazu bringen, sich der Erinnerung zu stellen. Jakob denkt an seine glückliche Kindheit in einem Bordell in Kairo, den religiösen Drill der Klosterschule in Beirut. In San Francisco erlebte er die Befreiung der Schwulen, die sehr bald in einen grausigen Totentanz umschlug.

In einer Vielzahl von Stimmen und Handlungsebenen konfrontiert der Roman orientalische und abendländische Lebensweise und Kultur, die sich auch in der Lebensgeschichte Jakobs immerzu bekämpfen und befruchten – elegant, kraftvoll und geistreich.

BIOGRAFIE

RABIH ALAMEDDINE (Jg. 1959) lebt als Maler und Schriftsteller in San Francisco. Sein erster Roman „Koolaids. The Art of War“ (1998) war ein internationaler Erfolg; als erste deutsche Übersetzung erschien 2016 sein Roman „Eine überflüssige Frau“. In „Der Engel der Geschichte“ kehrt Alameddine zum Thema seines ersten Romans zurück.

LESEPROBE

Der andere der beiden merkte, dass sie im Begriff standen, ihr Publikum zu verlieren, und meldete sich nun wieder zu Wort: Kannst du dir das vorstellen, sie hat in anderthalb Jahren ihren Ehemann und ihre Tochter verloren, wie schrecklich ist das denn?

Kannst du dir das vorstellen – Alarmglocken rissen mich aus meinem zwanzigjährigen Schlaf. Es dauerte nur eine Sekunde, glaub mir, Doc. Zeus schleuderte zackige Blitze und Molotov schmiss Cocktails in Rip van Winkles Kopf. Ich schrie sie an, Ihr Mann ist gestorben? Das findest du schrecklich? Sie tut dir leid? Sie hat ein erfülltes Leben gehabt! Mir sind sechs Freunde in einem halben Jahr weggestorben, ein halbes Dutzend enger Freunde einschließlich meines Partners. Wir waren noch Babys, wo war sie, als wir starben, wo wart ihr, ihr Arschlöcher? Adrenalin wurde durch meine Venen gepumpt, anarchisch, atavistisch, köstlich, ein Schweißfilm auf den Handflächen, kribbelnde Arme, Wut in der Stimme. Schon beim Schreien wurde mir klar, wie dumm die Frage war, ich meine, wo sollen sie gewesen sein? Sie waren noch auf der Grundschule, vermutlich acht oder zehn. So, wie Jahwe Hiob fragte, Wo warst du, als ich die Erde erschaffen habe? Ich war noch nicht geboren, du Dummkopf, niemand war geboren. Und diese Jungs, dünnhäutig und verängstigt, schauten, als wären sie acht oder zehn. Gegelter Stoppelschnitt griff nach seinem Glas Eiswasser, vielleicht aus Angst, ich würde es über ihm ausleeren. Tom Soundso klammerte sich an die Tischplatte, bis die Fingerknöchel weiß wurden. Ich wollte, dass es mir leidtat, aber es gelang mir nicht. Meine Amygdala war durchgebrannt, der Verstand ließ mich im Stich, mir blieb nur die Wut, die lange verlorene Wut. Habt ihr eure eigene Geschichte vergessen? Ich schrie und schrie. Ihr mit eurer rechtschaffenen Apathie, warum lasst ihr zu, dass die Welt uns vergisst, unsere Existenz auslöscht, die große Unterschlagung der queeren Geschichte? Die Musik plärrte noch, aber alle anderen Geräusche waren verstummt. Ich konnte spüren, dass jedes einzelne Auge auf mich gerichtet war, all die ängstlichen und finsteren Blicke. […]

Aids war ein Fluss ohne Bett, der geräuschlos und unerbittlich durch mein Leben geflossen ist, alles überflutet und jeden ertränkt hat, den ich kannte, der meine Seele durchnässt hat, aber Nasswerden, Sich-Vollsaugen heißt nicht Sterben, und ich schwamm; wenn es ging, ließ ich mich treiben, und ich glaubte, ich hätte gesiegt, um Jahre später herauszufinden, dass der Fluss in seiner Beharrlichkeit und Rastlosigkeit in winzigen Rinnsalen fortlebte, die in jeden noch so entfernten Winkel meiner Existenz eindrangen. Aber du weißt ja, Doc, Ratten können Überschwemmungen überleben – Überschwemmungen und sinkende Schiffe…