Meine Leben

von Edmund White

Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Bartholomae

Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 528 Seiten
Veröffentlichung: Juni 2021

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Meine Leben

Edmund White verblüfft seine Leserschaft immer wieder mit neuen Möglichkeiten des autobiografischen Schreibens. In diesem Buch ordnet der amerikanische Schriftsteller seine Lebensgeschichte nach Themen und Figuren, die ihn als Mensch und Künstler prägten. Es geht um „Meine Seelenklempner“, „Meine Stricher“ und „Mein Europa“, um Eltern, Freunde und Jean Genet. In zehn Kapiteln spannt Meine Leben den Bogen vom plüschigen Muff der USA im Mittleren Westen der 1950er-Jahre, über das brodelnde New York der 1960er und 70er, bis hin zur intellektuellen Boheme im Paris der 1980er. Mit messerscharfer Beobachtungsgabe beschreibt White seine Zeit, seine Mitmenschen und sich selbst. Dabei findet er stets originelle, wenn auch beileibe nicht immer schmeichelhafte Zugänge zu seiner Vergangenheit. Sein Vater ist ein konservativer Geschäftsmann, für den schon das Tragen einer Armbanduhr als unmännlich gilt; seine Mutter eine extravagante Kinderpsychologin, die ihren Sohn nach der Scheidung in die intimsten Details ihrer glücklosen Affären einweiht; seine Lover sind zwielichtige Engel und engelsgleiche Sadisten; seine Freunde brillante Intellektuelle wie Joyce Carol Oates und Michel Foucault.

Mit radikaler Offenheit und erzählerischer Eleganz spiegelt White persönliche Wegmarken und Obsessionen an der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Indem er sich als Sohn, Liebender, Leser, Amerikaner, Künstler, schwuler Mann und Mensch offenbart, reflektiert er die philosophischen und gesellschaftspolitischen Fragen seiner Zeit. Ein kluges, pralles und gegen sich selbst und andere schonungsloses Buch.

Biografie

EDMUND WHITE, 1940 in Cincinnati, Ohio, geboren, zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Schriftstellern der Gegenwart. Bekannt wurde er vor allem durch seine autobiografisch gefärbte Romantrilogie „Selbstbildnis eines Jünglings“, „Und das schöne Zimmer ist leer“ und „Abschiedssymphonie“. Außerdem veröffentlichte er Biografien über Jean Genet, Marcel Proust und Arthur Rimbaud. Auf Deutsch erschienen zuletzt die Romane „Hotel de Dream“ und „Die Gaben der Schönheit“, seine New York-Memoiren „City Boy“ sowie „Der Flaneur“, ein kulturhistorischer Spaziergang durch das andere Paris. Für sein literarisches Schaffen erhielt Edmund White zahlreiche Preise. 2019 wurde er von der National Book Foundation für sein Lebenswerk geehrt. White lebt in New York.

LESEPROBE
Auszug aus dem Kapitel „Meine Seelenklempner“

Meine Mutter schickte mich zu einem freudianischen Psychiater in Evanston zur Untersuchung. Ich hatte gerade Oscar Wilde gelesen und war fest entschlossen, so kühl und überlegen zu sein wie seine Figuren. Ich saß auf der Stuhlkante, hektische rote Flecken auf den Wangen, und quasselte ohne Punkt und Komma über meine Verfassung, meine Krankheit, die ich ebenso wenig verteidigen konnte wie Oscar Wilde. Alles, was er oder ich zu bieten hatten, waren Trotz und Unverschämtheit. Was konnten wir schon tun, wenn wir von einem Staatsanwalt oder einem Psychiater festgenagelt wurden – etwa das Recht auf Homosexualität einfordern? So schlau war keiner von uns beiden. Keiner von uns war in der Lage, über den Horizont unseres speziellen geschichtlichen Moments hinauszusehen, besonders ich nicht, der ich als Amerikaner in den sedierten Fünfzigerjahren im Grunde gar nicht an so etwas wie Geschichte glaubte. In unseren Augen war Geschichte durch Natur ersetzt worden. Was ich tat, war gegen die Natur und ihre Gesetze.

Der Psychiater sagte meiner Mutter, ich sei „nicht zu retten“. Man sollte mich einschließen und den Schlüssel wegwerfen. Meine Mutter konfrontierte mich sofort mit diesem strengen, furchteinflößenden Urteil, und ebenfalls meinen Vater, obwohl ich sie gebeten hatte, es nicht zu tun. Natürlich waren weder sie noch ich in der Lage, seine Diagnose als gefährliches engstirniges Vorurteil eines banalen kleinen Vorstädters im braunen Anzug abzutun. Nein, sie kam von einem Arzt und war ebenso unumstößlich wie die Diagnose von Diabetes oder Krebs. Wie gebildet oder menschlich der Mann war, spielte keine Rolle.

Meine Mutter war mit einer etwas jüngeren Frau namens Johanna Tabin befreundet, die bei Anna Freud in London studiert und sich als Psychiaterin in Glencoe niedergelassen hatte. Wir besuchten sie, ihren Mann und die zwei Söhne manchmal in ihrem großen Haus in der Vorstadt, oder sie kamen in unsere Wohnung am See. Sie verkörperten alles, was wir uns wünschten – Wohlstand, ruhige Intelligenz und Ansehen, gesellschaftliche und berufliche Bedeutung und eine liebende Familie. Johannas Ehemann Julius war Kernphysiker und arbeitete als Patentanwalt für Erfindungen auf dem Gebiet der Nukleartechnik.

Johannas Söhne waren ein paar Jahre jünger als meine Schwester und ich; ihre Mutter behandelte sie mit größtem Respekt. Wann immer sie etwas sagten oder ihr eine Frage stellten, schenkte sie ihnen ihre volle Aufmerksamkeit, selbst wenn sie gerade mit meiner Mutter telefonierte. So viel Nachsicht war sehr ungesund, entschied meine Mutter, sie lehnte das ab und nahm es ihrer Freundin übel. Doch Johanna war hartnäckig. Sobald im Hintergrund ein Geräusch zu vernehmen war, legte sie den Hörer beiseite und sagte: „Ja, mein Schatz, ich höre zu. Was ist denn, mein Liebling?“ Mit derselben Aufmerksamkeit analysierte sie ihre Träume und Spiele. Ich erinnere mich, wie Geoffrey, der jüngere Sohn, immer wieder ein Lied über herumwirbelnde Steppenläufer sang, das er sich selbst ausgedacht hatte. Sie beschloss, dass er der kleine Steppenläufer war, vor dem sein Vater, das große Pferd, furchtsam zurückscheute – das ganz normale Bedürfnis, den Patriarchen zu erschrecken, sagte sie mit glücklichem Lächeln.

Ich fand es schade, dass meine Mutter viel zu selbstbezogen war, um mein Verhalten jemals so geistreich zu interpretieren, und falls doch, dass sie Anzeichen von Widerstand niemals ermuntert, sondern unterdrückt hätte. Heute verstehe ich, dass sie ganz allein auf der Welt war, arm, überarbeitet und durch die Zurückweisung durch meinen Vater zutiefst verletzt. Obwohl sie uns die drei Musketiere nannte, waren wir in Wirklichkeit schmerzlich voneinander isoliert. Meine Schwester war fest überzeugt, dass meine Mutter und ich peinliche Freaks seien; sie selbst war unbeliebt und igelte sich ein. Dass ich ein schräger Vogel war, traf offensichtlich zu. Und meine Mutter fühlte sich nur dann ruhig, souverän und professionell, wenn sie einen Test an einem Kind durchführte.

Auf Johannas glückliche Ehe muss sie eifersüchtig gewesen sein, denn sie sammelte begierig alle Hinweise darauf, dass ihr Zusammenbruch bevorstand. „Arme Johanna“, sagte sie, „die arme Kleine wird von Julius schrecklich vernachlässigt. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass er sich von ihr trennt.“ Trotz dieser harten Vorhersagen blühte und gedieh Johannas Ehe, ihre Karriere stieg in immer höhere Höhen, ihr Ehemann wurde immer erfolgreicher, und ihre Söhne wurden immer klüger. „Arme Johanna“, heuchelte Mutter. „Sie vergräbt sich in ihre Arbeit, weil sie die Ehe so unglücklich macht.“

Am meisten wunderte mich, dass Johanna so unbeirrt an der Freundschaft zu meiner Mutter festhielt. Verfügte meine Mutter über geheime Vorzüge? Ich hatte mich schon einmal sehr gewundert, als ich die Examensarbeit meiner Mutter über religiöse Erlebnisse von Kindern las und so viele große Worte darin entdeckte, deren Bedeutung ich nicht kannte und die ich noch nie aus ihrem Mund gehört hatte.

Als wir eines Abends bei Johanna waren, sagte ich ihr, dass ich homosexuell sei. Ich weiß nicht mehr, wie wir auf das Thema zu sprechen kamen. Hatte meine Mutter schon davon erzählt? Ich weiß noch, dass wir auf der verglasten Veranda saßen, die etwas tiefer lag als das hell beleuchtete Wohnzimmer. Das Abendessen war vorbei. Johanna lächelte unablässig strahlend zu ihren beiden Jungs hinüber, die außer Hörweite um das Sofa rannten, doch als sie sich dann mir zuwandte, senkte sie ihre großen traurigen Augen hinter der blau gerahmten Brille, und über den Augenbrauen entstand eine entzückende Zornesfalte. Außer einem dezent rosa Lippenstift trug sie kein Makeup; sie ging nicht mit der Mode und fand es ausreichend, nett auszusehen. Meine Mutter, die sich aufgedonnert hatte wie eine Onnagata im Kabuki-Theater, missbilligte diese Schlichtheit.

Johanna beugte sich vor und stützte ihr Kinn in die Hand. Sie war so geschmeidig wie ein junges Mädchen und hatte wunderbare Zähne – ihre Mutter war Zahnärztin. „Ich mache mir große Sorgen“, sagte ich. „Anscheinend bin ich in der normalen homosexuellen Entwicklungsphase stecken geblieben.“ Ich war fünfzehn. „Ja, mein Schatz“, sagte sie, „ich spüre, dass dich das sehr beschäftigt.“ Ihre Gesprächsführung bestand darin, ihr Gegenüber durch Wiederholung dessen, was es gerade gesagt hatte, widerzuspiegeln, eine Methode, die auf Carl Rogers zurückging.

Meine Mutter fand diese Methode beleidigend und auf empörende Weise herablassend, aber mir gefiel sie, weil sie klar auf das Problem fokussierte und keine Wertung vornahm. Johannas Leben war so eindeutig von Erfolg gekrönt, dass ich mich darin sonnte, für einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit zu erhalten.

„Meinst du, ich sollte eine Therapie machen?“ Sie musterte mein Gesicht mit ihren großen, mitfühlenden Augen und schwieg. „Könnte ich zu dir kommen?“, fragte ich. Ich wusste, dass sie in ihrem schalldichten Sprechzimmer im Untergeschoss jeden Tag viele Patienten empfing. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass Johanna eine Lesbierin geheilt hatte, die jetzt mit einem New Yorker Schriftsteller glücklich verheiratet war. „Hast du“, fragte sie mit einer Behutsamkeit, die mir eine Empfindlichkeit unterstellte, die mir leider nicht annähernd gegeben war, „mein Schatz, hast du jemals schon …“
„Sex gehabt?“, fragte ich fröhlich. „O ja, jede Menge.“ Einen Moment lang war ich stolz auf meine Erfahrung, doch dann sah ich, dass sie schockiert und traurig auf mein Geständnis reagierte.

„Ich hatte keine Ahnung“, sagte sie und schüttelte den Kopf, als ob er plötzlich sehr viel schwerer geworden wäre, «dass du diesen Impulsen gefolgt bist und sie bereits in Taten umgesetzt hast.“ Sie blickte betrübt. Die Christen hatten mich gelehrt, dass der Gedanke genauso sündig war wie die Tat, doch Johanna schien zu glauben, etwas „in Taten umzusetzen“ sei schlimmer als es sich nur zu wünschen. Weil ich meinen Wünschen gefolgt war, war es – was? Schwerer geworden, sie mir auszutreiben? War ich verloren?