Fortwährende Eingriffe

von Martin Dannecker

Klappenbroschur, 232 Seiten

Veröffentlchung: April 2019

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Fortwährende Eingriffe

Die Schwulenbewegung der 1970er Jahre kämpfte für die Befreiung der Sexualität. Mit dem Auftreten von HIV und Aids geriet sie jedoch in die Defensive. Der „Lebensstil der Homosexuellen“ wurde durch Medien, eine moralinsaure Gesundheitspolitik und warnende Stimmen aus der Bewegung selbst für die Verbreitung der tödlichen „Schwulenseuche“ verantwortlich gemacht. Martin Dannecker hat im Laufe der Debatten die dramatischen Einschnitte in die sexuelle Freiheit immer wieder analysiert, dabei an seinem sexualitätsbejahenden und emanzipatorischen Standpunkt festgehalten und gegen den Trend moralisch argumentierender und restriktiver Präventionsstrategien Stellung bezogen.

Heute kann eine HIV-Infektion in Schach gehalten werden, hat sich Aids zu einer behandelbaren Krankheit entwickelt, ist das Infektionsrisiko durch die Kombitherapien und PrEP deutlich gesunken. Und doch haben HIV und Aids die Sexualität, nicht nur die homosexuelle, spürbar verändert. In der Rückschau legen Danneckers fortwährende, oft provokative Eingriffe in die Diskussionen den längst vergessenen Anteil offen, den HIV und Aids an den gegenwärtigen sexuellen Verhältnisse haben. Und sie zeigen, wie es gelingen kann, sich dem Druck der »Normalisierung« zu widersetzen und die Freiräume der Subjekte zu verteidigen.

Biografie

MARTIN DANNECKER, geboren 1942, gehört zu den Pionieren der Schwulenbewegung. Er war an Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers …“ (1971) beteiligt; seine mit Reimut Reiche durchgeführte Studie „Der gewöhnliche Homosexuelle“ (1974) veränderte die öffentliche Wahrnehmung schwuler Männer. Dannecker lehrte von 1991 bis 2005 als außerordentlicher Professor am Institut für Sexualwissenschaft des Klinikums der Universität Frankfurt / M. und publizierte zahlreiche Aufsätze und Bücher. Er lebt seit einigen Jahren in Berlin. Im März 2021 wurde Dannecker für „Fortwährende Eingriffe“ sowie sein Lebenswerk mit dem Medienpreis der Deutschen Aids-Stiftung ausgezeichnet. Weitere Texte von ihm erschienen in der Bibliothek Rosa Winkel in „Die Geschichte der Homosexualitäten und die schwule Identität an der Jahrtausendwende“ (Bibliothek Rosa Winkel), „Ohnmacht und Aufbegehren“ (Edition Waldschlösschen) sowie.der Reihe „Queer Lectures“

Writer's Statement
„Vorbemerkungen“ zu „Fortwährende Eingriffe“

Am 5. Juni1981 wurde in den Vereinigten Staaten ein kurzer Bericht publiziert, in dem über eine ungewöhnliche Konstellation von Pilzinfektionen und einer seltenen Lungenentzündung bei fünf jungen homosexuellen Männern informiert wurde. In einem Kommentar zu diesem Bericht vermuteten die Herausgeber einen Zusammenhang zwischen dem neuen Krankheitsbild und einigen Aspekten des homosexuellen Lebensstils.

Schon vier Wochen später erschien in der New York Times ein Artikel mit der Überschrift „Rare Cancer Seen in 41 Homosexuals“, in dem betont wurde, dass die Mehrheit der Erkrankten häufig sexuelle Kontakte mit verschiedenen Männern gehabt hätte. Wie bei allen neuen Krankheitsbildern tauchte auch in diesem Fall die Frage nach einer möglichen Ansteckung auf. Wohl in der Absicht, die Bevölkerung zu beruhigen, ließ die Gesundheitsbehörde der Vereinigten Staaten verlauten, dass nicht von einer Ansteckung auszugehen sei, da dieses Krankheitsbild und sein besorgniserregender Verlauf (mehrere der Patienten waren kurze Zeit nach der Diagnosestellung verstorben) nur unter homosexuellen Männern beobachtet worden sei.

Ende des Jahres 1981 wurde das neue Krankheitsbild mit dem Akronym GRID (Gay Related Immune Deficiency) bezeichnet und damit zu einer Schwulenkrankheit gemacht. Diese Bezeichnung wurde, nachdem dieses Krankheitsbild auch bei einigen Drogengebrauchern und Frauen auftrat, Mitte 1982 durch das Akronym ‚AIDS‘ (Aquired Immune Deficiency) ersetzt. Heute steht ‚Aids‘ als ein gewöhnliches Wort im Duden.

Obwohl für jeden vernünftig Denkenden von Anfang an klar war, dass die Vorstellung einer nur homosexuelle Männer befallenden Krankheit ein Trugbild sein musste, das auf mehr oder weniger bewussten antihomosexuellen Straffantasien beruhte, hat sich die Gleichsetzung von Aids mit Homosexualität in vielen Köpfen der westlichen Welt für lange Zeit eingenistet. Verstärkt wurde diese Verlötung durch die bald eingeführten epidemiologischen Register, die zeigten, dass sich Aids sowohl in den USA als auch in Europa vor allem unter homosexuellen Männern ausbreitete.

Mit einer gewissen Verzögerung kam Aids, und der Rumor über diese Krankheit, auch hierzulande an. 1983 setzte die von Angst beherrschte Debatte über die gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen von Aids voll ein und beherrschte für mehrere Jahre das öffentliche Bewusstsein. Beispielhaft dafür war ein Spiegel-Titel vom 6. Juni 1983 und dessen Aufmacher. In diesem hieß es: „Die Homosexuellen-Seuche ‚AIDS‘ , eine tödliche Abwehrschwäche, hat Europa erreicht. Mindestens 100 Deutsche sind bereits erkrankt, sechs in den letzten Wochen gestorben. Die Ärzte sind ratlos: Über die Ursache wird nur spekuliert, eine Behandlung gibt es nicht. In den nächsten zwei Jahren wird die Zahl der ‚AIDS‘-Kranken drastisch zunehmen.“

Die grassierende Angst trieb die Hochrechnungen an. Bald war von 600.000 Infizierten oder mehr die Rede. Doch diese Hochrechnungen waren keine, sondern nur schlecht begründete Schätzungen. Als sich auch amtliche Stellen wie das Bundesgesundheitsamt an den angstmachenden Spekulationen beteiligten, habe ich eine hier im Anhang dokumentierte öffentliche Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) angeregt. Erschienen ist diese gemeinsam mit meinen sexualwissenschaftlichen Kollegen verfasste Erklärung „Über den allgemeinen Umgang mit AIDS“ im November 1984.

Die grassierende und medial unterfütterte Angst vor Aids beschränkte sich keineswegs auf die Angst, an Aids zu sterben. Angst hatten die Menschen auch vor der Offenbarung ihrer Sexualität und der damit einhergehenden Stigmatisierung, die im Moment des Nachweises einer HIV-Infektion in Gang gesetzt wurde. Von Anfang an war Aids nicht nur eine schwere Erkrankung. Aids war auch ein Zeichen für ein angeblich falsch gelebtes Leben. Aids war von wuchernden Bildern umstellt, die ausgrenzend wirkten. Aids war eine Metapher für die Folgen einer nicht normgerecht gelebten Sexualität. Aids wurde eng mit einem unkonventionellen Lebensstil verknüpft. An Aids erkrankten, abgesehen von Hämophilen, vor allem gesellschaftlich Marginalisierte oder solche, die sich mit diesen zu eng eingelassen hatten. Nachgewiesen wurde das Aids verursachende Virus im Blut, im Schweiß, im Sperma und in Tränen. Alles Stoffe, aus denen die Mythen und die Leidenschaften gewebt sind. Um die Ausbreitung von Aids zu verhindern, so meinten bald die Hardliner der Aids-Prävention, müssten diese Antriebe eingehegt, ja bekämpft werden. Auf dem Spiel standen folglich nicht weniger als die Errungenschaften der sexuellen Liberalisierung.

Seit Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat mich „Aids“ sozusagen nicht mehr losgelassen und ich habe darüber mit vielen diskutiert, aber auch gestritten, und einiges dazu publiziert. Eine Auswahl meiner zahlreichen öffentlichen Äußerungen zu Aids und HIV ist in diesem Band versammelt. Soweit es mir erforderlich schien, habe ich die Kontexte ihrer Entstehung in den vorangestellten editorischen Notizen erläutert. Außerdem wurden die Texte redaktionell überarbeitet – sie stimmen also nicht Wort für Wort mit den angegebenen Erstveröffentlichungen überein. In den Texten finden sich unterschiedliche Schreibweisen von Aids. In den älteren wird zumeist das Akronym AIDS verwendet. Dieses Akronym steht in einem gewissen Zusammenhang mit der exzeptionellen Phase im Umgang mit dieser Erkrankung. Doch schon vor der „Normalisierung von AIDS“ Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts taucht in vielen Texten, so auch in meinen, bereits die Kleinschreibung auf. Über einen längeren Zeitraum wurden beide Schreibweisen relativ beliebig nebeneinander verwendet. Inzwischen ist das Akronym AIDS fast völlig verschwunden und taucht zumeist nur noch zur Bezeichnung von Einrichtungen auf, die während der Anfangsphase von Aids gegründet wurden, wie beispielsweise die AIDS-Hilfen. Dass Aids zu einem Wort der Umgangssprache geworden ist, sagt mehr über die Bedeutungsverschiebung im Umgang mit dieser Krankheit aus, als es auf den ersten Blick erscheint.

Eingeflossen in die hier versammelten Texte sind die Diskussionen, die ich im Laufe der Zeit mit unterschiedlichen Personen geführt habe, wobei mir diejenigen mit Mitgliedern von AIDS-Hilfen besonders wichtig waren. Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch die Auseinandersetzungen in den Anfängen des Nationalen AIDS-Beirats. Eingang gefunden haben auch die Erfahrungen, die ich als Supervisor von AIDS-Hilfe-Mitarbeiter_innen und von Ärzt_innen und Pflegekräften der AIDS-Ambulanz und AIDS-Station des Frankfurter Klinikums und als Dozent und Gruppenleiter der „Positiventreffen“ in der Akademie Waldschlösschen und im „Gesundheitstraining für Menschen mit HIV / AIDS“ gemacht habe. Ich habe dadurch unschätzbar viel gelernt. Nicht zuletzt die professionell gerahmten Begegnungen mit an Aids erkrankten Menschen und HIV-infizierten Menschen haben mir immer erneut vor Augen geführt, was es bedeutet unter das „Zeichen von HIV / Aids“ gestellt zu sein. Sie verfügen über eine Art von Wissen über den Aids-Komplex, das ich nicht habe, das aber als Wiederhall in einigen Texten aufscheint.

Ausdrücklich erwähnen möchte ich an dieser Stelle all jene, in deren Dankesschuld ich stehe: Michael Albaum, Bernd Aretz, Sophinette Becker, Michael Bochow, Michael Bohl, Christa Brunswicker, Ulla Clement-Wachter, Folker Feix, Herbert Gschwind, Hans Peter Hauschild, Agnes Katzenbach, Bärbel Kischlat, Stefan Majer, Christoph Mayr, Anne Morneweg, Stefan Nagel, Uli Niesenhaus, Reimut Reiche, Dirk Sander, Rainer Schilling, Christian Setzepfandt, Volkmar Sigusch, Albrecht Ulmer, Achim Teipelke, Bernd Vielhaber, Wolfgang Vorhagen und Wolfgang Wettstein. Die hier nicht Erwähnten, deren Zahl groß ist, bitte ich um Nachsicht. In gewisser Weise sind aber auch sie, wie die ausdrücklich genannten Personen, Mitautoren der von mir geschriebenen Texte.

Einige von ihnen haben mir mit ihrer Freundschaft über die schwere Zeit hinweggeholfen, in die ich Anfang der 1990er Jahre durch die Erkrankung und den Tod meines Lebensgefährten Rüdiger Hahn geraten bin. Aber auch schon davor war mir Aids, durch das Sterben und den Tod von Freunden, mit denen ich in der Welt unterwegs war, viel zu nahe gerückt. Das kann an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Auf die Idee, Publiziertes und Unpubliziertes zum Thema Aids und HIV in einem Sammelband zusammenzustellen, hat mich Clemens Sindelar gebracht, dem ich dafür danken möchte.

Berlin, im September 2018