Ein Tor zum Meer

von Khaled Alesmael

Aus dem Arabischen übersetzt von Christine Battermann

Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 192 Seiten
Veröffentlichung: September 2022

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Ein Tor zum Meer

Es beginnt mit einem Geständnis. Dem aus Syrien nach Schweden geflüchteten Journalisten und Autor Khaled Alesmael wird ein anonymer Brief zugespielt. Das Schreiben ist auf Arabisch verfasst und stammt von einem schwulen Mann aus Damaskus. Er erzählt von einem Vorfall in Syrien: einem Autounfall, der auf tragische Weise mit der Homosexualität des Absenders zusammenhängt – und der mit einem Todesfall endet. Für Alesmael ist der Bericht wie ein Weckruf. Er nimmt ihn zum Anlass, die Schicksale schwuler Männer aus der arabischen Welt, die ihm im Laufe der Jahre erzählt wurden, zu sammeln, aufzuarbeiten und mit der Welt zu teilen – und damit denjenigen eine Stimme zu geben, die sonst keine haben.

Nachdem Khaled Alesmael im Roman „Selamlik“ seine eigenen Fluchterfahrungen verarbeitete, lässt er in dieser Geschichtensammlung zehn queere Menschen zu Wort kommen, die Ähnliches erlebt haben wie er selbst. Basierend auf Gesprächen und Korrespondenzen mit Geflüchteten aus verschiedenen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens erzählt er von Biografien, die die physische und psychische Gewalt verdeutlichen, denen schwule Männer im arabischen Raum ausgesetzt sind. Die Protagonisten erzählen von Scheinehen, sexuellem Missbrauch, Polizeigewalt und Tötungen in ihren Heimatländern, aber auch vom Ringen um eine neue Identität im Exil. Der multiperspektivische Ansatz setzt sich in unterschiedlichen Textformen fort. Neben Prosa-Passagen bindet Alesmael Chat-Verläufe, Briefe und klassische Interview-Sequenzen in die Geschichten ein. Die Motivation des Projekts erklärt er im Epilog in Anlehnung an Martin Luther King so: „Die Homosexuellen an einem Ort sind verantwortlich für die Befreiung der Homosexuellen an jedem anderen.“

BIOGRAFIE

KHALED ALESMAEL wurde als Sohn eines syrischen Vaters und einer türkischen Mutter in Syrien geboren. Er studierte an der Universität Damaskus englische Literatur und arbeitete als Journalist in verschiedenen Großstädten Europas und des Nahen Ostens; für die taz in Berlin schrieb er über syrische Flüchtlinge in Deutschland. Seine journalistische Arbeit wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. 2014 floh Alesmael von Damaskus nach Stockholm. Sein Debütroman „Selamlik“ wurde 2018 in Schweden erstveröffentlicht und erschien 2020 bei Albino in deutscher Übersetzung. Für die in „Ein Tor zum Meer“ enthaltene Geschichte „Eine Stofftasche mit dem Aufdruck Damaskus“ erhielt er den Radiopreis des schwedischen Rundfunks. Khaled Alesmael lebt in London.

WRITER'S STATEMENT
Khaled Alesmael über „Ein Tor zum Meer“

Wie stets bin ich auch jetzt entschlossen, mich von meiner Wut und Trauer so weit wie möglich zu distanzieren. Ich habe schließlich etwas zu erledigen. Ich komme aus einem Land, in dem homosexuelle Männer von Menschen mit einer Phobie physisch und psychisch ausgelöscht werden. Und das diktatorische Regime sperrt sie ein. Denn Paragraf 520 des Strafgesetzbuches von 1949 verbietet „körperliche Beziehungen entgegen der natürlichen Ordnung“ und belegt sie mit bis zu drei Jahren Gefängnis.

So ist die gegenwärtige Situation, von der ich geformt worden bin: als queerer Mann und Muslim. Dennoch kann dies mich nicht davon abhalten, Veränderung und Sichtbarkeit einzufordern.

Viele Homosexuelle genießen dieser Tage das Privileg, ihre sexuellen Neigungen offenbaren zu können, manche heiraten, manche dürfen auch Kinder adoptieren. Für die Angehörigen ethnischer oder religiöser Minderheiten gelten diese Privilegien jedoch nicht. Zahlreiche homosexuelle Minderheiten haben Schwierigkeiten, ihre Ethnie, Religion und Sexualität miteinander zu vereinbaren, den Segen ihrer Eltern für ihre sexuellen Neigungen zu erhalten und diese in einer männlich dominierten Gesellschaft zu offenbaren. In der Kultur, in der ich aufgewachsen bin, gilt Homosexualität als absolute Bedrohung für die Familienehre und wird daher als kulturelle Abnormität abgelehnt. Die Folge ist, dass viele Homosexuelle das Gefühl haben, in einem Schrank zu leben und zu sterben, und manche in Gefahr sind, Opfer von Ehrenverbrechen zu werden, zusammen mit Kriminellen ins Gefängnis gesteckt oder zwangsverheiratet zu werden, wobei die Zwangsverheiratung noch als die gnädigste Strafe zu betrachten ist.

Ich selbst war es nicht gewohnt, das Regenbogenbanner zu tragen oder in meinem Umfeld zu finden, daher habe ich eine gewisse Zeit gebraucht, um eine Beziehung dazu herzustellen. Zu diesem Zweck steht es nun auf meinen Schreibtisch. Jedes Mal, wenn ich es ansehe, muss ich an einen Satz von Martin Luther King denken: „Ungerechtigkeit an irgendeinem Ort bedroht die Gerechtigkeit an jedem anderen.“ Analog dazu sage ich: „Die Homosexuellen an irgendeinem Ort sind verantwortlich für die Freiheit der Homosexuellen an jedem anderen.“

Ich glaube fest, dass die LSBTQI*-Gemeinschaft auf Mitwirkung angewiesen ist, wir sind darauf angewiesen, dass wir für uns selbst und für die Gesellschaft sichtbar werden und einander beistehen gegen die fehlende Akzeptanz, wo immer wir darauf treffen. Durch meine Fähigkeit zu schreiben und die Macht der Presse verfüge ich über Einfluss und Privilegien, die ich nutzen muss, um jedem, der sich nach einem Coming-out sehnt, den Weg dahin zu eröffnen.

Das vorliegende Dossier mit dem Titel „Ein Tor zum Meer“ umfasst zehn Briefe von homosexuellen arabischen Männern. Es stützt sich auf eine lange Reihe von Interviews, mit denen ich gleich nach meiner Ausreise aus Syrien begonnen habe. Weil Heimat für mich kein geografischer, durch Grenzen definierter Begriff ist, habe ich in den Herzen der Homosexuellen nach einer Heimat gesucht. Ich hörte mir ihre Geschichten an, als seien es Puzzleteilchen, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen. In einigen von ihnen fand ich meine Vergangenheit wieder, in anderen meine Gegenwart, und bei wieder anderen wünschte ich mir, sie repräsentierten nicht meine Zukunft. Über Dating-Apps und soziale Medien habe ich mich mit mehr als dreißig Männern verabredet, hinzu kamen die, mit denen mein Schicksal mich unterwegs zusammenführte, Menschen mit unterschiedlichen Augenfarben, aber alle mit dem gleichen traurigen und zugleich wachen Blick. Wie Edelsteine, die auf ein und dieselbe Schnur gefädelt sind: die Angst. Die Angst davor, an die Öffentlichkeit zu treten und ihre Neigungen zu offenbaren. Manche von ihnen glauben noch immer, es handele sich um ihre Privatsache. Manche haben Angst um sich, manche um ihre Ange hörigen, manche um ihre Ehefrau. Imponiert hat mir, dass kein Einziger von ihnen Angst vor Gott hat, als vertrauten sie blind darauf, dass Gott die Schwulen liebt, dass sie zwar Probleme mit den Menschen auf Erden haben, nicht jedoch mit Gott im Himmel…

Während ich mit ihnen sprach, erinnerten sie sich, und auch mich, daran, woher wir kommen. Unsere Dialoge stützten sich also auf die Erinnerung und das Erinnern.

Sich-Erinnern ist eine einzigartige Tätigkeit, die sowohl Berechnung als auch dunklen Impulsen unterliegt. Das Gedächtnis ist nicht einfach ein Archiv von Bildern und Situationen, die Kummer und Sehnsucht hervorrufen können, sondern ein Konstrukt, auf dem sich unser Leben aufbaut. Wir alle sehnen uns so sehr danach, eine kohärente Geschichte über unser Dasein zu erzählen, dass unser Gedächtnis Geschichten erfindet, die uns ein vollständigeres Bild unserer selbst präsentieren sollen. Seinem wirklichen Wesen nach ist das Gedächtnis ein raffinierter Autor, der zuweilen mit den Ereignissen spielt und den Fakten durch Hinzufügung von Gefühlen und Emotionen eine bestimmte Farbe verleiht. Aus diesem Grund habe ich mich dazu entschlossen, die zehn Erinnerungen in diesem Buch in Form von Briefen und nicht als Tatsachenberichte zu veröffentlichen…

Ich habe dieses fiktionale Sachbuch nicht geschrieben, um Sie im Unklaren zu lassen, was Fakt ist und was Fiktion, sondern um Sie einzuladen, sich auszumalen: Was wäre, wenn Sie einer dieser Männer wären? Wie ginge es Ihnen heute, wenn Sie dessen Erfahrung gemacht hätten?

Barada, Abdul, Sphinx, Semiramis und Tariq, Safadi, Fadi und Aaron, Saif und sein Freund, Othello und Matar – das sind nicht bloß Namen. Jeder von ihnen trägt eine Landschaft in sich, eine weitläufige Landschaft, von der wir den Ausgangspunkt kennen, die Ausdehnung und das Ende jedoch nicht. In diesem Buch möchte ich zeigen, dass wir in verschiedenen Wahrheiten leben und dass das Panorama, das sich Ihnen von Ihrem Fenster aus bietet, nicht das einzige Bild von der Welt ist.

Khaled Alesmael