Zwischen Annäherung und Abgrenzung

Religion und LSBTIQ* in gesellschaftlicher Debatte und persönlichem Erleben

Herausgegeben von Carolin Küppers und Martin Schneider

Kartoniert, 200 Seiten

Veröffentlchung: April 2021

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Zwischen Annäherung und Abgrenzung

Die Beiträge dieses Sammelbands befassen sich mit der Frage, in welchem Verhältnis die großen monotheistischen Religionen zu LSBTIQ* stehen. Wie kann individuelle Emanzipation im Kontext von Religionsgemeinschaften funktionieren – oder stehen sich hier konträre Ziele entgegen? Zum anderen soll betrachtet werden, wie Religion und LSBTIQ* gesellschaftlich verhandelt werden und welche Vorstellungen und Bilder im gesellschaftlichen Diskurs sichtbar werden. Sind schwule Muslime, christliche Lesben, jüdische Trans*-Menschen oder buddhistische Queers in der öffentlichen Wahrnehmung vorstellbar?

INHALT

Einleitung

Sabine Exner-Krikorian: Jüdisch und/oder homosexuell? Die Meinungspluralität zu Homosexualität in den jüdischen Denominationen Nordamerikas

Serena Tolino: Homosexualität im Nahen Osten. Eine Analyse hegemonialer und konkurrierender Diskurse

Martin Friedrich Kagel: Der Buddhismus Nichiren Daishonins – die Wertschätzung der Einzigartigkeit in der Vielfalt

Joachim Bartholomae: Feuertaufe oder Visionssuche – Wege zur Erleuchtung schwuler Sünder in James Baldwins „Go Tell It On The Mountain“ und Richard Amorys „Lied des Sterntauchers“

Michael Brinkschröder: Liberal oder Pastoral? Evangelische und katholische Wege zur Akzeptanz von Lesben und Schwulen

Gerhard Schreiber: Blinder Fleck. Geschlechtliche Vielfalt aus kirchlich-theologischer Perspektive

Regina Ammicht Quinn: Gleichgeschlechtliches Begehren. Über die Notwendigkeit christlicher Scham

LESEPROBE
Einleitung von Carolin Küppers und Martin Schneider (Hrsg.)

„After decades as an Orthodox man, I finally became the religious woman I was born to be.“ (Smith 2019) Mit diesen Worten beginnt Yiscah Smith die Erzählung über den langen Weg ihres Coming-Outs als Transfrau und gläubige Jüdin. Die Schwierigkeiten, beides zu vereinen, haben sie ihr ganzes Leben begleitet. Schlussendlich war für sie das Leben als Transfrau im orthodoxen Kontext nicht möglich, eine spirituelle Person ist sie jedoch geblieben. Sie unterrichtet „authentic jewish spiritual practice“ am Pardes Institute in Jerusalem, einem offenen, koedukativen und nicht konfessionellen Institut für jüdisches Lernen, das 1972 gegründet wurde. An ihrer Geschichte zeigt sich recht deutlich, in welchem Spannungsverhältnis sich LSBTIQs hinsichtlich (ihrer) Religion häufig wiederfinden. Religiös und LSBTIQ zu sein wird oft als Gegensatz wahrgenommen. Das ist nicht verwunderlich, überwiegen doch unter den offiziellen Äußerungen zu Homosexualität seitens der großen, in Deutschland vertretenen Glaubensgemeinschaften eher skeptische bis verurteilende Stimmen. Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen stehen zwar weniger im Fokus, werden aber auch eher selten mit offenen Armen willkommen geheißen (vgl. BMFSFJ o.J.). Die Ablehnung von Homosexualität reicht insbesondere in den großen monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, historisch weit zurück. Hier setzte sich eine Idealvorstellung durch, in der Sex der Fortpflanzung dienen solle, weshalb ausschließlich heterosexuelle Beziehungen als die vor Gott richtigen anerkannt werden (vgl. Naphy 2004) – ob sie nun Kinder hervorbringen oder nicht. Aufgrund der LSBTIQ-skeptischen bis -feindlichen Haltung der abrahamitischen Religionen oder auch wegen persönlicher Ausgrenzungserfahrungen halten viele LSBTIQ Distanz zu religiösen Organisationen.

Die Frage, in welchem Verhältnis LSBTIQ zu den großen monotheistischen Religionen stehen, kann jedoch immer nur kontextspezifisch beantwortet werden. Hier greifen gesellschaftliche Vorstellungen, Community-Interessen sowie persönliche Sozialisation und Erfahrungen auf unterschiedliche Weisen ineinander. Dies alles wird zunehmend brüchiger bzw. vielgestaltiger. Gerade vor dem Hintergrund der vielbeschworenen „Rückkehr der Religionen“ (vgl. Riesebrodt 2000) wollen LSBTIQ ihren Glauben und ihr Queer-Sein nicht mehr als Gegensätze begreifen, sondern als verschiedene Aspekte einer intersektional verstandenen Persönlichkeit. Häufig finden sich gläubige LSBTIQ in einer zweifach unverstandenen Position wieder – von anderen LSBTIQ und von ihren Religionsgemeinschaften.

Dabei haben Glaubensgemeinschaften seit jeher eine persönlich begleitende und sozial stiftende Funktion inne. Es könnte also gerade eine Chance für Glaubensgemeinschaften sein, wenn Mitgliederzahlen derzeit eher am abnehmen sind (Hank 2019), Gläubige bei der Suche nach der Vereinbarkeit von religiösem Bekenntnis und sexueller Identität nicht allein zu lassen. Religionsgemeinschaften könnten sich nicht nur öffnen, sondern auch aktiv die Akzeptanz unterschiedlichster Lebens- und Liebensweisen ermöglichen, sind doch gerade Werte wie Nächstenliebe und Gerechtigkeit einer ihrer zentralen Bestandteile. Ein Beispiel, in dem eine solche Chance genutzt wurde, ist die Geschichte von Tugay Sarac. „Ich habe zur Religion zurückgefunden“, beschreibt er das Ergebnis eines Prozesses, den die Ibn Rushd-Goethe Moschee bei ihm angestoßen hat (Sarac 2020). Das Schwul-Sein und Muslim-Sein kompatibel sind, konnte er sich vorher nicht vorstellen. Sogar dem radikalen Salafismus hatte er sich zugewandt, bevor er seiner Religion fast ganz den Rücken zukehrte. Als er glaubte, Religion und Sexualität nicht in Einklang bringen zu können, fand er in der liberalen Moschee eine proaktive Auseinandersetzung. Deren Gemeinschaft half ihm zu erkennen, dass er der Religion nicht den Rücken kehren musste, um schwul zu sein, und dass er nicht aufhören musste, schwul zu sein, um Muslim zu sein (Sarac 2019). Heute ist Sarac LSBTIQ-Koordinator der Ibn Rushd-Goethe Moschee. In einer Gruppe queerer Muslime und mit Workshops an Schulen will er anderen das Gefühl geben, nicht alleine zu sein; etwas, das ihm als Jugendlichem gefehlt hat.

Auch in der wissenschaftlichen Forschung wird der vermeintliche Widerspruch von Islam und Homosexualität thematisiert. Hier wird häufig auf die historisch sexuelle Vielfalt oder die homoerotische Dichtung in der reichen Geschichte der islamischen Welt verwiesen (Ghandour 2019, El Feki 2013). Gerade in diesem Facettenreichtum an Deutungsmöglichkeiten von Religionen liegt auch eine Chance für LSBTIQ, Religion nicht als Feind, sondern als Verbündete zu sehen. Es ist also durchaus lohnenswert, diese Vielgestaltigkeit genauer zu betrachten.

Der vorliegende Band geht auf eine Tagung gleichen Titels in der Akademie Waldschlösschen im Dezember 2018 zurück. Das Ziel der Tagung war eine multiperspektivische Betrachtung. So ging es zum einen um die Frage, welche persönlichen Erfahrungen LSBTIQs mit den Glaubensgemeinschaften gemacht haben, denen sie sich zugehörig fühlen, und wie sie diese unterschiedlichen Zugehörigkeiten (LSBTIQ sein und religiös sein) miteinander in Einklang bringen. Wie kann individuelle Emanzipation im Kontext von Religionsgemeinschaften funktionieren – oder stehen sich hier konträre Ziele entgegen?

Neben diesen stärker individuellen Perspektiven betrachtet der Band aber auch, wie Religion und LSBTIQ gesellschaftlich verhandelt werden und welche Vorstellungen und Bilder im hegemonialen Diskurs sichtbar werden. Sind schwule Muslime, christliche Lesben, jüdische Trans*-Menschen oder buddhistische Queers in der öffentlichen Wahrnehmung vorstellbar? Und falls nein, warum nicht? Wenn es um Religiosität, Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, sexuelle und geschlechtliche Identität geht, stellt sich immer wieder die Frage: Was gilt als privat, was als öffentlich oder politisch? Auf welch unterschiedliche Weisen können hier Theologie, Judaistik oder Islamwissenschaft eine Brückenfunktion einnehmen – oder tun sie das gerade nicht? Daraus ergibt sich auch eine historisch-politische Frage: Was machte das Verhältnis zwischen Emanzipationsbeweger*innen und Religionsvertreter*innen schwierig, auf welchen Ebenen waren aber auch Kooperationen möglich? Die Beiträge dieses Bandes gehen diesen Fragen schlaglichtartig zu einzelnen Religionen nach. Keine Religion wird im Folgenden ausführlich aus alles Perspektiven betrachtet, es mischen sich vielmehr persönliche Erfahrungen, historische Kontextualisierungen, literarische Betrachtungen mit soziologischen und theologischen Analysen aktueller Debatten um die Anerkennung von LSBTIQ seitens der abrahamitischen Religionen. Um Vollständigkeit geht es also nicht, sondern um verschiedene Einblicke und ein Zusammenführen durchaus unterschiedlicher Erfahrungskontexte und Perspektiven.

Sabine Exner-Krikorian untersucht in ihrem Artikel das Verhältnis von Sexualität, Homosexualität und Geschlechtlichkeit im Judentum. Hierfür legt sie ihrem Aufsatz eine religionswissenschaftliche Perspektive zugrunde, wobei sie ein sozial-konstruktivistisches und diskursives Verständnis von Religion(en) wählt. Sie versteht „Religionen als von Menschen gemachte und gewordene Systeme […], die in ihrem jeweiligen historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden müssen“. Vor diesem Hintergrund wählt sie einen diskursanalytischen Blick darauf, wie Homosexualität in den verschiedenen Strömungen des Judentums verhandelt wird. Insbesondere in den USA gibt es bereits lebhafte Debatten darüber, wie die religionsgesetzlichen Anweisungen, „also die Einstellung bezüglich der Gültigkeit von Tora und Halacha sowie Abgrenzungsdynamiken in Bezug auf andere jüdische Strömungen und in Bezug auf die gesellschaftliche und kulturelle Umgebung“, umzusetzen bzw. auszulegen sind. Dabei arbeitet sie heraus, dass es sowohl Positionen gibt, die eine Verbindung dieser Aspekte religionsgesetzlich ausschließen als auch andere Positionen, die versuchen, eine religionsgesetzlich konsistente Verbindung zu entwickeln. In Deutschland hingegen ist die innerjüdische Debatte zu Homosexualität noch sehr jung und es gibt bislang wenig eigene Organisationen. In einem Vergleich der Debatten in den USA und in der BRD zeigt Exner, dass gerade den sozialen Medien eine besondere Rolle zukommt, jüdische LSBTIQ sichtbarer zu machen und ihre Vernetzung zu befördern.

Serena Tolino analysiert in ihrem Beitrag vorherrschende und konkurrierende Diskurse über Homosexualität im Nahen Osten. Dieser Artikel ersetzt den Beitrag zu LSBTIQ und Islam, der auf der Dezembertagung 2018 gehalten wurde.1 Hierfür diskutiert sie zunächst die derzeit vorherrschenden – zum Teil konkurrierenden – Diskurse. Sie hinterfragt zu einseitige Deutungen und Bezugnahmen auf die Kategorie Homosexualität bzw. ob man im Nahen Osten überhaupt von Homosexualität als Identitätskategorie sprechen kann. Immerhin seien die Kategorien der Homo- und der Heterosexualität das Ergebnis sozialer und historischer Entwicklungen, die hauptsächlich in Westeuropa und den Vereinigten Staaten an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert stattgefunden haben. Ihre Analyse basiert auf Primärquellen wie online verbreiteter fatwās (also die juristische Meinung eines islamischen Rechtsexperten, des muftīs, zu einem bestimmten Thema), die auf den führenden islamischen Webseiten veröffentlicht werden. Ihre These ist, dass fatwās über Homosexualität einen homophoben Diskurs schufen, der Homosexualität als Handlung der „Sünde“ beschrieb. Diese Deutung blieb allerdings nicht nur im religiösen Kontext wirkmächtig, sondern wurde zum vorherrschenden Diskurs. Dem steht ein Gegendiskurs gegenüber, der maßgeblich auf Interventionen von LSBTIQ-Organisationen, wie bspw. Bedayaa in Ägypten, zurückzuführen ist, und in dem Homosexualität deutlicher als Kategorie sexueller Orientierung und Identität verhandelt wird, denn als sündhafte Verhaltensweise, die den Prinzipien des Islams widerspricht. Dadurch existieren – wie Tolino anhand ihrer empirischen Analyse ausführt – zwei widerstreitende Deutungen von Homosexualität nebeneinander: „die traditionelle Vorstellung, die Homosexualität als eine Frage sexueller Handlungen versteht, und eine andere, die eine homosexuelle Identität annimmt und emotionale Komponenten betont.“ Hier sieht Tolino das Potential, die vorherrschenden Diskurse zu Homosexualität im Islam herauszufordern und so auch zu verändern.

Aus einer religionsimmanenten Sicht beschäftigt sich Martin Friedrich Kagel mit der Akzeptanz von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in den Schriften des Buddhismus Nichiren Daishonins. Zu LSBTIQ im Konkreten lässt sich hier zunächst wenig finden, da Vorstellungen gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und sexueller Praktiken in den buddhistischen Schriften kein Thema darstellen. Deshalb befasst sich Kagel zunächst allgemeiner mit der Wertschätzung der Einzigartigkeit in der Vielfalt eines jeden einzelnen Menschen im Lotos-Sutra und überträgt die dort zu findenden Deutungen auf die Wertschätzung der Einzigartigkeit von LSBTIQs.

Joachim Bartholomae betrachtet in seinem Artikel die Darstellung religiöser Erweckungserlebnissen in der Literatur. Hierfür stellt er zwei Schlüsselszenen vor aus James Baldwins Roman „Go Tell It On The Mountain“/“Von dieser Welt“ und Richard Amorys Roman „Das Lied des Sterntauchers“. Während das erste Erlebnis in einer evangelikalen schwarzen Gemeinde im Harlem der 1950er Jahre spielt und der schwule Subtext mehr zu erahnen ist, ist das zweite sehr viel deutlicher pornografisch- homoerotisch und in einem spirituellen Kontext von native-american Naturvorstellungen angesiedelt. Beiden Beschreibungen der Erweckungserlebnisse ist gemein, dass ihre Protagonisten das Lebensglück im freien Umherschweifen, im Sich-Ausleben in der ‹weiten Welt› erkennen. Baldwin beschreibt, „wie brutal der fundamentalistische Protestantismus jede Verbindung zur Natur, selbst zum eigenen Körper zu unterdrücken versucht, um auf diesem Weg zu einem vermeintlich höheren Glück zu gelangen“. Währenddessen greift Amory auf einen alten Ritus der amerikanischen Ureinwohner*innen zurück, um „seinen Helden gegen den Hass und die Missgunst seiner Zeitgenossen zu wappnen, damit er dieses Glück ungehindert suchen und unbeschwert genießen kann.“ Religion bzw. Spiritualität dient somit in den beiden Romanen als eine Art Katalysator für das Coming-Out der Protagonisten.

Die weiteren Beiträge des Bandes widmen sich dem Verhältnis von LSBTIQ und Christentum aus unterschiedlichen Perspektiven. Die zentralen Figuren und Institutionen, die sich ab 1969 für eine Emanzipation innerhalb der beiden großen christlichen Kirchen einsetzten, stehen dabei im Fokus von Michael Brinkschröders Beitrag. In der evangelischen Kirche bauten einzelne (ausnahmslos männliche) Theologen und liberale Landeskirchen auf die Historisierung der heiklen biblischen Textstellen. Das Lesen der Schriften aus ihrem geschichtlichen Kontext heraus war dabei grundlegend für die Entwicklung einer liberalen, evangelischen Theologie, deren zentrale Norm die Liebe ist. Brinkschröder zufolge spielte diese Auslegung eine zentrale Rolle dafür, dass – spätestens mit der Einführung der kirchlichen Trauung von gleichgeschlechtlichen Paaren – inzwischen eine völlige rechtliche Gleichstellung in mindestens der Hälfte aller Landeskirchen erreicht ist. Andere große Themen der letzten 50 Jahre sind – zumindest in Teilen der Evangelischen Kirche – die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Pfarrer*innen, die Betreuung von Regenbogenfamilien und das Sichtbarmachen transgeschlechtlicher Menschen. Mit Hilfe von unterschiedlichen exegetischen Argumenten konnte sich in der Evangelischen Kirche inzwischen „ein Verständnis der Bibel etablieren, das die anfängliche Vorstellung, wonach ‹die› Bibel gegen ‚Homosexualität‘ sei, hinter sich ließ.“ Die katholische Kirche ist von solch einer Entwicklung hingegen noch weit entfernt. Dieser Umstand ist Brinkschröder zufolge dem Verharren auf dem Naturrecht geschuldet, das sexuelle Abweichungen sanktioniert. Während in der katholischen Seelsorge größtenteils Stillschweigen über Homosexualität verordnet wurde, entstanden mit den Homosexuellen und Kirche (HuK), in den Lesbischwulen Gottesdienstgemeinschaften (LSGG), im Netzwerk katholischer Lesben (NKaL) oder in der AG Schwule Theologie solidarische Schutzräume aus der Basis heraus. Dies führte dazu, dass auch in der Kirchenleitung – wenngleich manchmal mit starkem Widerstand – ein Umdenken stattfand. Wirklich verschoben hat den Rahmen des Diskurses die Haltung des aktuellen Papsts Franziskus, der auf queere Menschen in pastoraler Art zugeht, und anderen Klerikern und Seelsorger*innen dadurch ein Vorbild sein kann. Dass er gleichzeitig homosexuelle Priester aus der Kirche ausschließen und die Genderforschung bekämpfen will, lässt seine vermeintliche Offenheit allerdings unglaubwürdig erscheinen. Und während konservative Bischöfe einer Liberalisierung entgegenarbeiten wollen, bemühen sich die hierarchisch niedrigere Jugendsynode oder Beratungsstellen an den Kirchen darum, „im Bereich der theologischen Anthropologie und Moraltheologie neue Wege zu beschreiten.“.

Der Beitrag von Gerhard Schreiber widmet sich der theologisch-kirchlichen Auseinandersetzung mit geschlechtlicher Vielfalt am Beispiel von Intersexualität und Transsexualität. Hierfür arbeitet Schreiber zunächst die unhinterfragte Selbstverständlichkeit des binären Geschlechtermodells in der traditionellen theologischen Anthropologie heraus. Er macht auf den Widerspruch aufmerksam, dass zwar „biblisch-jüdisch-christlich-theologisch die axiomatische Aussage gilt, dass Gott, der Schöpfer, alles Geschaffene ins Sein gerufen hat“, dass aber dennoch auch „die Annahme der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen und der damit einhergehende Ordnungsdualismus von ‹Mann› und ‚Frau‘“ als gottgegebene Festlegung des traditionellen christlichen Menschenbildes gilt. Die Existenz geschlechtlicher Vielfalt stellt die beiden großen christlichen Kirchen also vor eine gewisse Herausforderung. Es verwundert dabei nicht wirklich, dass – wie Schreiber herausarbeitet – die evangelische Kirche hier eine progressivere Position einnimmt als die katholische, auch wenn hier nach wie vor keine Einigkeit besteht, wie bspw. Inter- und Transgeschlechtlichkeit zu bewerten und zu behandeln sind. Abschließend nimmt der Beitrag die innerkirchliche Auseinandersetzung zum Familienverständnis in den Blick und betrachtet, wie dies vor dem Hintergrund geschlechtlicher Vielfalt aus theologischer Sicht zu deuten wäre. Er argumentiert, dass auch die großen christlichen Kirchen sich nicht gegen die Vielfältigkeit, wie Familie bereits gelebt wird, verschließen dürfen und – wollen sie sich außertheologischen Wissensbeständen und gesellschaftlichen Realitäten nicht verschließen – „die christlichen Glaubenstraditionen im Kontext neuzeitlichen Denkens und Handelns entfalten und in unserer durch Individualismus und Pluralismus geprägten modernen Gesellschaft argumentativ verantworten“ müssen.

Ausgangspunkt der Analysen von Regina Ammicht Quinn ist der Missbrauch an Kindern innerhalb der katholischen Kirche. Sie kritisiert insbesondere all jene Bischöfe, die derzeit versuchen, die Schuld hierfür Homosexuellen zuzuschieben. Sie zeigt auf, dass die Verurteilung gleichgeschlechtlicher Sexualität in der westlichen Kulturgeschichte insbesondere auf drei Vorwürfen basiert:

- Homosexuelle widersetzten sich der Fruchtbarkeit
- Homosexueller Sex sei folgenlos und wird daher als dekadenter Exzess bewertet
- Homosexualität störe beziehungsweise kehre die natürliche Hierarchie um.

Dahinter macht sie die Scham als das zugrunde liegende Gefühl aus. „Scham ist in vielen ‹westlichen› Kontexten eine darstellungsunfähige Empfindung, für die auch kaum Entlastungsrituale zur Verfügung stehen. „Dementsprechend trägt Ammicht-Quinn zufolge die katholische Führungsriege zu großem Teil dazu bei, dass Scham im Christentum unauflösbar mit Sexualität verkettet ist, deren Ursprungsgeschichte jene von Adam und Eva sei. Wie Ammicht-Quinn ausführt, tragen sie damit zur Last der Beschämung und der Scham gleichgeschlechtlich Liebender bei. Die Autorin plädiert daher für ein Verständnis von Scham als selbstbezüglicher Perspektive, bei der nicht andere, sondern jede*r sich für sich selbst über das eigene Verhalten schämt. Denn nur in diesem Fall erwachse aus der Scham eine sich selbst korrigierende Haltung. Das wäre für die Debatten in der katholischen Kirche über die von ihr verursachte Ungerechtigkeit und Gewalt sicherlich mehr als hilfreich. Oder wie die Ammicht Quinn folgert: „Und vielleicht muss die Kirche, will sie nicht endgültig in den Abgrund stürzen, an dem sie steht, zum schambesetzten Raum werden. Was wäre daran schlecht? Nichts.“