Wie man einen autobiografischen Roman schreibt

von Alexander Chee

Aus dem Englischen übersetzt von Nicola Heine und Timm Stafe

Mit einem Nachwort von Daniel Schreiber

Klappenbroschur, 388 Seiten
Veröffentlichung: März 2020

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Wie man einen autobiografischen Roman schreibt

Der amerikanische Autor Alexander Chee spürt in diesen autobiografischen Essays dem Wechselverhältnis von Leben, Literatur und Politik nach. Chronologisch angeordnet, zeigen sie Chee, wie er vom Schüler zum Lehrer, vom Leser zum Autor heranwächst und sich dabei den widersprüchlichen Anforderungen seiner verschiedenen Identitäten stellt: als Amerikaner mit koreanischen Wurzeln, als schwuler Mann, Künstler und politischer Aktivist.

Intensiv beschäftigt sich Chee mit den prägenden Erfahrungen seines Lebens, dem Tod seines Vaters, der Aids-Krise und dem Trauma des Kindesmissbrauchs, aber auch mit seinen Leidenschaften für Tarot und Rosenzucht, seinem ersten Mal in Drag und der Entstehung seines Romans Edinburgh. So erhellend wie elegant, fügen sich die Texte in diesem Band zu einer Art Autobiografie in Fragmenten und einer Liebeserklärung an das literarische Schreiben.

ÜBER DEN AUTOR

ALEXANDER CHEE ist Autor der Romane „Edinburgh“ und „The Queen of the Night“. Seine Essays und Literaturkritiken erschienen unter anderem in „The New Republic“, „The Los Angeles Times“ und „Slate“. „Wie man einen autobiografischen Roman schreibt“ ist seine erste Essaysammlung. Alexander Chee unterrichtet Creative Writing am Dartmouth College und lebt in New York.

LESEPROBE
Wie ich ein amerikanischer Schriftsteller wurde (Auszug)

1
Wie oft habe ich schon geglaubt, das wäre jetzt das Ende? Diese Frage stellte sich mir am Morgen nach der Wahl, die wir alle bisher nur «die Wahl» nennen, als sollten wir keine weitere erleben. Die Frage stieg in mir auf wie ein schwarzer Ballon, mein neuer, ständiger Begleiter, immer irgendwo am Rande meines Gesichtsfelds, als Antwort auf meinen ersten Gedanken: Das ist das Ende der Welt.

Ich stand zu Hause in der Küche vor dem Herd. Eigentlich musste ich an diesem Vormittag unterrichten. Das Seminar absagen kam nicht infrage, nur wusste ich im Moment nicht, wie ich es bis dorthin schaffen sollte. Kaffeekochen schien ganz unmöglich, Frühstückmachen ebenso. Nach unten laufen, ins Auto steigen, zwanzig Minuten zum College fahren, wo ich unterrichtete. Den Seminarraum betreten. All das konnte ich mir gerade nicht vorstellen.

Was mir stattdessen durch den Kopf ging: eine rassistische, evangelikale, theokratische, militaristische Regierung. Meine muslimischen Freunde verhaftet und abgeschoben. Von rechten Bürgerwehren gejagt werden, weil ich schwul, biethnisch oder beides bin. Die Klimaabweichung, die nächste Stufe des Klimawandels, mit andauernden heftigen Wetterumschlägen, Monsunregen und Schneestürmen, Sturmfluten und klirrender Kälte. Das Meer eine heiße, leblose Suppe.Eine Regierung gegen Umweltschutz, gegen Arbeitsschutz, gegen Abtreibung, Geburtenkontrolle und allgemeine Gesundheitsversorgung.

Ich stand unter Schock, das wusste ich. Am Abend zuvor, als das Ergebnis endgültig schien, hatte mir der Mann, mit dem ich seit drei Jahren zusammen war, einen Heiratsantrag gemacht, und ich hatte Ja gesagt. Wir wollten heiraten, bevor uns neue Gesetze die Möglichkeit dazu nehmen konnten, zumal ich wusste, dass damit unsere Chancen auf Asyl stiegen, falls das nötig werden sollte. Bis dahin hatte mein heutiger Ehemann kein Hehl daraus gemacht, das er die Ehe ablehnte. Später rief noch meine Schwester an, völlig am Ende, ihr war es eben erst gelungen, die Kinder ins Bett zu bringen – sie hatten sie angefleht, doch bitte wegzuziehen, gemeinsam das Land zu verlassen. All das hatte sich zwischen 2.30 und 3.30 Uhr nachts abgespielt.

Meine Hand hielt das Handy umklammert. Ich spürte ein Kribbeln, ein taubes Gefühl, das sich von meiner Schulter hinunterzog bis zu der Stelle, wo sich das Handy in meine Handfläche grub und einen Nerv abquetschte, nachdem ich
in ungläubigem Entsetzen von Zimmer zu Zimmer gelaufen war und einhändig weitergescrollt hatte, bis ich dann irgendwann in der Küche vor dem Herd zum Stehen kam. Der Schmerz, der an diesem Tag einsetzte, sollte mich fast ein Jahr lang begleiten.

Reflexartig ging ich auf Facebook. Was wirst du ihnen heute sagen, Professor?, hatte meine Freundin, die Dichterin Solmaz Sharif, gepostet.

Was ich heute im Unterricht sagen werde? Woher soll ich das wissen? Aus irgendeinem Grund riss mich das aus meiner Trance. Doch ich stand immer noch wie angewurzelt vor dem Herd.

Kannst du dir Kaffee machen?, fragte ich mich. Nein. Kannst du dir einen Kaffee kaufen? Ja. Dann geh und hol dir einen Kaffee, befahl ich mir.

Ich zog mir den Mantel über, holte mir einen Kaffee, dazu ein Sandwich zum Frühstück und fuhr Richtung Süden, zum College. Der Blick auf die White Mountains und die Green Mountains entlang der Interstate 95 hatte immer etwas Tröstliches für mich gehabt, aber heute war alles, woran ich auf dieser Fahrt denken konnte, das Ende der Welt.

· · ·

Als ich am College ankam, war alles wie leer gefegt – als wäre sämtlicher Unterricht ausgefallen. Auf meinem Weg zum Büro kam eine junge Frau aus der Bibliothek und lief quer über den irritierend leeren Rasen. Im Näherkommen sah ich ihr tränenüberströmtes Gesicht. Sie mied meinen Blick.

Im Büro suchte ich mein Unterrichtsmaterial zusammen und hörte mit, wie eine weitere junge Frau einem Kollegen weinend ihre Wut darüber gestand, zukünftig in einem Land leben zu müssen, das einen Triebtäter zum Präsidenten gemacht hatte.
Was wirst du ihnen heute sagen?
Es war, als wäre der Präsident einem Attentat zum Opfer gefallen. Doch der Präsident lebte, tot war nur das Land, in dem wir zu leben geglaubt hatten. Als wäre ein ganzes Land dem Attentat eines Präsidenten zum Opfer gefallen.

Ich kam in meinen Seminarraum. Meine Studentinnen und Studenten waren vollzählig anwesend. Alle wirkten still und angespannt, als würden sie sich überlegen, wie sie mir möglichst schonend beibringen konnten, dass einer von ihnen plötzlich verstorben war. Viele weinten oder hatten bis vor Kurzem geweint. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob nicht der eine oder andere das Wahlergebnis begrüßen würde, aber jetzt war klar: Das war nicht der Fall.

„Ich will nicht so tun, als hätte es den gestrigen Abend nicht gegeben“, sagte ich. „Sprechen wir über das, worüber wir sprechen müssen.“
„Wozu das alles?“, fragte eine meiner begabtesten Studentinnen in die Stille hinein. „Wozu schreiben, wenn so was passieren kann?“

· · ·

An dem Tag, als die Vereinigten Staaten 2003 in den Irak einmarschierten, war ich an meiner Alma Mater, der Wesleyan University, und bereitete meinen Unterricht für den nächsten Tag vor. Ich saß in der Wohnung des Kunstprofessors, bei dem ich zur Untermiete wohnte, und sah mir auf seinem vorsintflutlichen Fernseher die Berichte über die Invasion an, der Bildschirm nicht größer als ein Taschenbuch. Umgeben von Kunst sah ich einen Beitrag, in dem erklärt wurde, dass die Museen und Altertümer der antiken persischen Kultur aus den Jahrtausenden vor Saddam Hussein voraussichtlich dem amerikanischen Bombardement zum Opfer fallen würden. Das historische Erbe eines Landes, unwiederbringlich verloren. Im Anschluss zeigte man Donald Rumsfelds Reaktion auf solche Bedenken. Sie lautete: „Was sind schon ein paar alte Pötte weniger!“

Er wirkte gut aufgelegt, aufgekratzt geradezu, wie er das sagte. Er fand sich witzig. Ja, wen interessiert’s? Wen schert das alles? Mich überlief es kalt, als hätte sich ein Schatten über mich gelegt, wie man ihn auch nachts noch spürt. Wie fröhlich er das Erbe einer der ältesten Kulturen der Welt der Vernichtung preisgab, die Quelle von so vielem auch in unserer Kunst, unserer Literatur und Wissenschaft. Ich schaltete den Fernseher ab und saß allein und wütend in der kalten Wohnung, vor mir der Stapel Manuskripte, die ich noch durchsehen musste.

Also gut, wozu das alles? Die Aufgaben, die man sich als Schriftsteller so stellt, kamen mir plötzlich inadäquat vor. Und ich mir ebenso. Am nächsten Morgen an der Wesleyan stand ich vor einem Problem, das mir als Lehrer neu war: Ich wusste nicht, was ich meinen Studenten sagen sollte. Und hätte es wirklich gerne gewusst …